Frank Zimmermann puzzelt an der dunklen Geschichte des Kreiserziehungsheims

Ein langer Atem, viel Detailarbeit und eine Portion Glück sind nötig, um regionale Geschichte aufzuarbeiten. Besonders, wenn sie in eine der dunkelsten Epochen der deutschen Geschichte fällt.
Mühlheim – Frank Zimmermann treibt seit März die Geschichte des Kreiserziehungsheims an der Offenbacher Straße um, das 1895 errichtet worden war, und in das 1951 die Bereitschaftspolizei einzog und bis heute residiert. Aus vielen kleinen Puzzleteilen versucht der Manager bei einer deutschen Luftfahrtgesellschaft, eine Dokumentation der damaligen Gräueltaten zusammenzustellen. Das gestaltet sich wegen fehlender Zeitzeugen äußerst schwierig. Nun hat Zimmermann aber ein weiteres Puzzleteil bekommen – eine Kassette mit 90 Minuten Zeitzeugenberichten –, die seine bisherigen Recherchen untermauern und ihm gleichzeitig neue Einblicke in die Grausamkeiten des Heims während der Herrschaft der Nationalsozialisten geben.
Zimmermann stieß durch Umwege auf die Geschichte des ehemaligen Rumpenheimer Pfarrers Hans Hoffmann. Der stramme Nazi hatte die Leitung des Kreiserziehungsheims von seinem Vater 1928 übernommen und war bis 1945 dort als Direktor tätig. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er 1948 unbehelligt in den Dienst der Kirche zurück, war von 1951 bis 1968 evangelischer Pfarrer in Rumpenheim. Im Buch „Mühlheim unter den Nazis“ fielen Zimmermann erste Hinweise auf, dass zu dem Geistlichen widersprüchliche Infos existieren. Der Beginn eines bis heute andauernden Historienpuzzles, zu dem es sehr spärliche Informationen gibt. Zimmermanns Motivation: Er habe sich schon immer für Geschichte interessiert. Auch habe ihn irritiert, „dass eine der schillerndsten Nazi-Größen in Mühlheim, der für seine flammenden Reden bei Nazi-Veranstaltungen bekannt war und dessen Verhalten in dieser Zeit menschenverachtender und unchristlicher nicht sein konnte, im nur drei Kilometer entfernten Rumpenheim so lange Zeit und unbehelligt wieder als Pfarrer agieren konnte“.
Es scheint, vieles wurde in der Nachkriegszeit verdrängt oder schlicht ausgeblendet. Das zeigen auch Einschätzungen bezogen auf das Kreiserziehungsheim aus verschiedenen Jahrzehnten, die höchst unterschiedliche Perspektiven auf das dortige Treiben bieten.
Der von den Nazis sogenannte besondere Erziehungsauftrag für das Kreiserziehungsheim Mühlheim sei bislang unbekannt gewesen, erläutert Zimmermann und habe nichts anderes beinhaltet, als Zöglinge der Ermordung in der Tötungsanstalt Hadamar zuzuführen. Lediglich in den 1980er-Jahren, das hat Frank Zimmermann infolge seiner Recherchen herausgefunden, war mit der Ausstellung „Nazi-Terror gegen Kinder“ und einer Diskussionsveranstaltung zur NS-Zeit in Mühlheim das Thema am Rande öffentlich beleuchtet worden. Schon damals hatten Zeitzeugen von unvorstellbar brutalen Methoden im Kreiserziehungsheim erzählt. Besagte Kassette, die der Mühlheimer nun über Umwege und mit viel Glück ausfindig gemacht hat, dokumentiert eben jene Berichte von Zeitzeugen, die erschüttern. „Wenn man die Gesellenprüfung nicht schaffte, wurde man sterilisiert“, berichtet einer der beiden Zeitzeugen, die beide heute nicht mehr leben. Die Jugendlichen habe damals Angst umgetrieben. „Wenn ich heute durchfalle, bin ich morgen ein toter Mann“, erinnert sich der 1920 geborene Zeitzeuge, hörbar auch im Alter von 64 Jahren noch von den Ereignissen geprägt, an seine damaligen Selbstmordabsichten.
Im Heim seien die Kopfformen der Kinder und Jugendlichen vermessen worden. Passte dem Direktor und seinen Nazischergen die Kopfform nicht, habe es geheißen, das müsse geröntgt werden. „Erst Tage später hat man sie wiedergesehen, da waren sie dann sterilisiert.“ Auch von perfiden Quälereien unter Nutzung der Werkstatteinrichtung ist die Rede. Er habe als damals 15-Jähriger dabei zusehen müssen. „Man wollte mich damit abhärten, und wenn Zöglinge abgehauen sind, wurden sie zusammengeschlagen“, erzählt der Zeitzeuge 1984 und erläutert seine Motivation, seine schlimmen Erfahrungen zu teilen: „Wenn meine Generation weg ist, ist die Geschichte in der Versenkung verschwunden.“
Genau das möchte Zimmermann ebenso verhindern und hat Unterstützung im Geschichtsverein und am Friedrich-Ebert-Gymnasium gefunden. So wollen Schüler der elften Jahrgangsstufe um Lehrer Michael Schmidt Zimmermann beim Zusammenpuzzeln der Schicksale unterstützen und begeben sich auf Recherche, wer etwa hinter dem in Hadamar ermordeten Christian M. steckt. „Jeder Baustein hilft“, betont Zimmermann. Auch den Inhalt der Kassette wolle er niederschreiben. „Man bekommt über die Kassette eine Innenansicht von dem Haus“ und spüre, wie dort gelebt wurde, was für ein Grundgeist dort herrschte. „Das Kreiserziehungsheim war ein Rädchen im Rassenwahn der Nazis“, kann der 59-Jährige mittlerweile sicher sagen, obwohl er noch nicht alle Puzzleteile zusammengefügt hat.
Einen Überblick über sein bisheriges Historienpuzzle vom Kreiserziehungsheim sowie Hörproben von Aussagen der Zeitzeugen gibt Frank Zimmermann während einer gemeinsamen Veranstaltung des Geschichtsvereins und des Friedrich-Ebert-Gymnasiums am Freitag, 19. November, ab 19 Uhr im Schanz (Carl-Zeiss-Straße 6). (Von Ronny Paul)