Gespür für praktische Lösungen

Auch wenn es ruhiger um Elisabeth Gilmer-Kaiser geworden ist, hat sie stets viel zu erzählen. Ein Gespräch mit Mühlheims Ehrenbürgerin über ihre Kindheit, die Kriegsjahre und ihr Wirken in der Mühlenstadt:
Mühlheim – Elisabeth Gilmer-Kaiser, das ist die Frau, die sich kümmert. Wenn sie etwa auf einer Feier einen Menschen erblickt, der verloren am Rand steht, nimmt Mühlheims Ehrenbürgerin ihn unter ihre Fittiche und führt ihn in die Gruppe.
Wohl kaum jemandem käme der Gedanke, bei der langjährigen Kommunalpolitikerin – 1977 bis 1989 war sie SPD-Stadtverordnete, von 1989 bis 2011 ehrenamtliche Stadträtin – könnte es sich um eine „Eingeplackte“ handeln. Doch Gilmer-Kaiser kam 1935 im Spessart in Schimborn zur Welt. Sie legt wert darauf, nicht aus Bayern zu stammen. „Wir sind Unterfranken, die Bayern haben uns geklaut“, sagt Gilmer-Kaiser und lacht.
Zum Erziehungsstil gehörte damals, Kinder zu züchtigen. Gilmer-Kaiser erzählt von einem Erlebnis aus der ersten Klasse, als die nette Lehrerin wegen einer Gürtelrose pausieren musste. Eine andere vertrat sie: „Ich drehte mich nur kurz um und sagte nichts.“ Das nahm die Vertretungslehrerin zum Anlass, der Schülerin Elisabeth mit der Rute auf die Finger zu schlagen. Normalerweise verschwiegen Kinder so ein Erlebnis zu Hause aus Angst, gleich noch eine zu fangen. Im Elternhaus von Gilmer-Kaiser herrschte ein anderer Geist, „meine Mutter lief zu der Frau und drohte, sie anzuzeigen, wenn sie mich noch einmal ohne Grund schlägt“. Das half.
Wer Krieg für eine politische Option hält, sollte Gilmer-Kaiser zuhören, „Sirenengeheul und das immer lauter werdende Brummen einer Fliegerstaffel, das bekommst du nie mehr aus dem Ohr“. Vom Spessart aus sah sie den roten Himmel über Aschaffenburg, Hanau und Frankfurt, „die Ausgebombten, die zu uns kamen, erzählten von Nachbarn, die im Phosphor verbrannten“. Nach dem Krieg habe sie im Dorf gehört, wer sich alles in der Nacht vom 9. November 1938 am Eigentum jüdischer Mitbürger bedient hatte.
Der Vater hatte Glück, nicht nur weil er den Krieg im Osten überlebte, sondern auch die sowjetische Kriegsgefangenschaft vermeiden konnte, „er landete schließlich in englischer“. Nach einem halben Jahr hieß es im Dorf, „der Ludwig Gilmer kehrt zurück“. Jeden Tag lief Elisabeth Gilmer-Kaiser zum Ortsausgang, um zu sehen, ob der Vater auftaucht. Schließlich war es soweit.
In der Arbeitsstube vom „Gilmer-Schneider“ saßen oft Männer, die Kriegserlebnisse austauschten, „mein Vater wollte immer verhindern, dass wir Kinder die schlimmsten Sachen hören“. Wie etwa die Geschichte über den Vater von sechs Kindern, den die Wehrmacht in den letzten Kriegstagen wegen Fahnenflucht erhängt hatte.
Nach Mülheim führte das Schicksal Gilmer-Kaiser schließlich durch ihren ersten Mann, der bei Cassella in Fechenheim arbeitete. Als 18-Jährige bekam sie den ersten von drei Söhnen. An Wochenenden kellnerte Gilmer-Kaiser auf Festen. Später bediente sie im Grünen Baum in Dietesheim. In der Zeit war das nicht üblich, „aber ich wollte immer eigenes Geld verdienen“.
Ab 1960 saß Gilmer-Kaiser in Teilzeit im Konsum-Supermarkt an der Ludwigstraße an der Kasse, „damals begann ich mit meiner Arbeit für die Gewerkschaft“. Zehn Jahre später trat Gilmer-Kaiser der SPD bei, „für mich war das ein logischer Schritt“.
Nach sechs weiteren Jahren zog die Mühlheimerin ins Stadtparlament ein. Ab 1987 saß Gilmer-Kaiser für 25 Jahre als Stadträtin im Magistrat. Schon 1986 bekam sie für ihre gewerkschaftliche Arbeit den Landesehrenbrief, 2001 den Titel „Stadtälteste“. Seit 2011 gehört Gilmer-Kaiser zu der kleinen Riege der Ehrenbürger Mühlheims, 2012 verlieh ihr der Landrat im Auftrag des Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz. Als Stadträtin vertrat sie regelmäßig den Bürgermeister, wenn der einer Vereinseinladung nicht folgen konnte.
Was Elisabeth Gilmer-Kaiser besonders charakterisiert, ist ihr Gespür für lästige Probleme und praktische Lösungen. Auf ihre Initiative behob die Stadt schließlich so manches Ärgernis. So war es in den Toiletten auf den Mühlheimer Friedhöfen nicht möglich, Mantel oder Jacken aufzuhängen. Heute ahnt dort kein Nutzer, dass Gilmer-Kaiser einst für die Kleiderhaken sorgte. (Stefan Mangold)