Mit Wanderungen fing es an: Vom Touristenclub zur Ortsgruppe der Naturfreunde

„Die Leute hatten Tassen in der Küche stehen mit Geld für jeden Verein, dem sie angehörten“, weiß Norbert Müller noch genau. Denn er hat mit 14 Jahren und einer Sondergenehmigung wegen seines Alters die Beiträge für die Naturfreunde eingesammelt. Bei vielen Mitgliedern klingelte er jeden Monat, denn sie hatten nicht das Geld fürs ganze Jahr.
Mühlheim – Im Dezember begleiteten ihn Ältere von der Jugendgruppe, damit er die ausstehenden Summen bekommt... Nicht nur diese Praxis ist zum 100. Geburtstag der Mühlheimer Ortsgruppe Geschichte.
„Zehn Prozent der Einnahmen durfte ich behalten“, erzählt der Senior weiter, und das war 1954 schon ein stattliches Taschengeld. Rund 70 Jahre sind er und Gerd Katzmann jetzt dabei, davon 50 im Vorstand. Sie kennen freilich auch die Entwicklung der Gemeinschaft.
1895 in Wien gegründet als politisch-kulturelle Bewegung, bemüht um soziale Gerechtigkeit, einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur und einen sanften Tourismus. Die Geschichte der Naturfreunde ist eng mit Arbeiterbewegung und Alpinismus verbunden, heißt es in der Chronik. Die Arbeiter sollen aus ihrer ungesunden Umgebung in die freie Natur geführt werden, Handwerksgesellen verbreiteten die Idee.
Schon 1910 verabredeten sich Mühlheimer zum Wandern im Spessart, „denn die meisten waren Bayern“. Am 3. November wurde diese Vergnügungsgesellschaft in den Touristenclub „Frisch Auf“ umbenannt, am 1. April 1922 traten die Mitglieder den Naturfreunden bei. 40 Männer hatten sich eingeschrieben, Kaspar Kemmerer war der erste Obmann. Sie boten Lichtbildvorträge, Sing- und Diskussionsabende sowie Gymnastik an. Nach zwei Jahren gründeten sie eine Jugendgruppe.
Das eigene Heim weihten sie am 5. Juli 1931 nach einem großen Festumzug in der Roten Warte ein. 1933 wurde die Organisation von den Nazis verboten, das Haus beherbergte fortan die Hitlerjugend. Später diente es Fremdarbeitern als Unterkunft. Nach dem Krieg verschlug es viele Naturfreunde aus dem Sudetenland in die Mühlenstadt. Sie trafen sich im Kartenzimmer der Volksschule und in einer Baracke auf dem Schulhof, die sie für 50 D-Mark erwarben.
Die Hütte wurde 1954 auf dem Gelände des Kleingärtnervereins Maienschein auf ein Betonfundament gestellt, erhielt 1960 einen Steinbau und 1975 einen weiteren Trakt. 1994 wurde der ganze Komplex abgerissen und durch ein großzügiges Gebäude ersetzt. Darin entwickelten sich Fachgruppen für Bergsteigen, Wandern, Instrumentenspiel, Motorradfahren, Kreatives, Tischtennis, Fahrrad und jüngst für Kinderklettern.

Jeder übernahm ein paar Wochen den Hüttendienst, Frauen backten Kuchen, bereiteten Würstchen und kochten Kaffee. „Danach haben sie die Räume an den nächsten sauber abgegeben“, sagt Müller. Nach 2005 hat der Vorstand jedoch keine Freiwilligen mehr gewinnen können, die Gaststätte wurde verpachtet. Vorsitzende waren Heinrich Liegel, Horst Weber, Wolfgang Scherb, Harry Muntzke, Hans Stier, Wilfried Pieroth und Gerrit J. Mayer, aktuell ist es Franz Xaver Neumaier.
„Wir waren zwischen acht und 15 Jahre alt, sind in der Gruppe mit Straßenbahn und Zug zu den Naturfreundehäusern auf der Offenbacher Rosenhöhe gefahren, auf den Wingertskippel in Langenselbold und zur Günthersmühle in Besen-Kassel“, zählen Müller und Katzmann auf. Dort haben sie selbst gekocht, Wanderungen, Spiele im Wald unternommen und Holz gemacht. „Abends haben wir den Ofen gefüttert, bis das Rohr glühte.“
Die urige Brombacher Hütte im Weiltal, eines der ältesten Häuser des Vereins, steuerten sie im Winter mit Schlitten an. „Die Toilette lag genau überm Bach“, schildert Müller. Geschlafen wurde zu acht auf Matratzenlagern oder in Doppelstockbetten. Mit dem Wanderführer haben sie Esskastanien und Pilze gesammelt. Am Heim auf der Bulau in Rödermark startete ein Sport-Wochenende. Ein Tagesausflug führte jedes Jahr im April auf eine Blütenwanderung nach Bergen, zählen die engagierten Männer auf.
Dabei trafen sie sich oft mit Gleichgesinnten aus Offenbach und Langen, reisten mit acht Leuten in einem VW-Käfer, auf Motorrädern und Fahrrädern. Zwei Mark kostete die Übernachtung im Selbstversorgerhaus. Katzmann wälzte das Hüttenverzeichnis, schrieb die Verkehrsämter an, sodass der Postbote schnaufte. „Ich könnte alle Touren noch nachfahren“, zeigt er auf selbst gezeichnete Karten, die er mit seinen Kenntnissen aus einem Kalligrafiekurs gezeichnet hat. (Michael Prochnow)