„Es war wie Wachkoma“: Wie Gerdas kleine Weltbühne die Corona-Krise erlebt

Mühlheim – Gerdas kleine Weltbühne ist eine Institution in Mühlheim und weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Seit 47 Jahren begeistern Gerd Stein alias Gerda und seit 1980 auch Jürgen Peusch alias Jutta P. ihre Gäste mit Travestie-Theater. Peusch ist seit 17 Jahren „Chef“ des Ladens, „wobei das bei Gerda und mir egal ist, wir waren schon immer eins“. Im Interview spricht der 61-Jährige über die wohl schwerste Zeit, die er als Künstler bislang erlebt hat.
Am Wochenende haben Sie den dritten Anlauf für die Schlagerette genommen. Wie lief es?
Schön. Ich war aufgeregter, als ich hätte sein müssen. Ich hatte Gott sei dank eine kleine Probe in der Woche davor bei einem Auftritt bei Freunden in einem Lokal in Gießen. Das heißt: Ich habe das Kleid schon mal angehabt, stand auf Pumps und habe auch gesungen. Die Schlagerette ist allerdings ein Programm, das einen Ablauf hat. Da gehört noch mehr Konzentration zu, als einfach aus der Lamäng loszulegen.
Das Kleid hat nach der langen Pause noch gepasst?
Ne (lacht). Ich habe viel zu viel zugenommen. Das heißt, ich brauchte ein neues Kleid.
Wie gut fühlt es sich an, nach so langer Zeit wieder auf der Bühne zu stehen?
Da ist auf einmal die Euphorie: Hurra, hurra, es funktioniert alles! Und dann ist es auf einmal so, wie immer, als wäre da kein ganzes Jahr Lücke dazwischen gewesen.
Wie haben Sie sich während der Unterbrechungen bühnenfit gehalten?
Ich habe effektiv Zeit totgeschlagen. Es ist tatsächlich so, dass wir erst zwei Wochen, bevor es wieder losging, angefangen haben, uns wieder um den Laden zu kümmern. Im Lockdown bin ich nur in die Weltbühne gegangen, um den Briefkasten zu leeren und Buchhaltung zu erledigen. Du hast keine Ambitionen gehabt, dich um irgendwas zu kümmern. Es war wie Wachkoma.
Wie schwer hat sich die Pandemie bisher auf „Gerdas kleine Weltbühne“ ausgewirkt? Hatten Sie Angst, den 50. Geburtstag der Weltbühne nicht mehr zu erleben?
Irgendwie muss es ja weitergehen. Das war gar nicht die Befürchtung. Ich habe eher gesagt, wenn der Virus ein halbes Jahr vorher gekommen wäre, hätte ich vielleicht den Fünfjahresvertrag nicht mehr unterschrieben. Es nervt: Du kannst nicht arbeiten, hast aber trotzdem Arbeit mit dem Geschäft und musst dich trotzdem kümmern. Du hast laufende Kosten ohne Ende, und es tut sich nichts. Du siehst effektiv kein Vorwärtskommen.
Sind Sie von der Politik enttäuscht?
Jein. Es ist natürlich aus unserer Sicht einfach zu sagen, dass viel verschleppt worden ist. Ich denke aber, die haben sich trotzdem Mühe gegeben. Aber das ist immer der Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Die in Berlin wissen nicht, wie es hier vor Ort aussieht und was tatsächlich los ist. Daher gab es ja die riesen Aktionen wie „Alarmstufe rot“ oder „Ohne Kunst wird es still“, weil die ganze Unterhaltungsbranche denen in Berlin gar nicht bewusst war. Wir mussten denen erst mal in Zahlen auf den Tisch legen, was die Veranstaltungsbranche für einen großen Teil in der deutschen Wirtschaft ausmacht.
Ist durch die Pandemie auch der Nachwuchs in der Branche flöten gegangen?
Das war vorher schon so. Wirklichen Nachwuchs zu finden, ist nicht so einfach. Es wird ja immer bunter und schriller. Die Drag-Queen-Szene wächst ohne Ende, aber die wollen alle nicht arbeiten. Die wollen am Wochenende in der Disco mal schön, schrill und bunt sein, wissen aber nicht, was es heißt, Unterhaltung zu verkaufen. Das ist harte Arbeit.
Nach wie vor ist das Interesse an Ihrer Show ungebrochen?
Natürlich. Wobei den Riesenhype, den wir früher hatten, haben wir heute nicht mehr. Früher waren wir die Exotischen, die Erotischen, „noch so ein bisschen schlechtes Gewissen haben, wenn man rein kommt“ – die Zeiten sind vorbei. Travestie ist was Normales geworden. Wir sind ein kleines Stück vom Unterhaltungskuchen, der angeboten wird.
Haben Sie je neidisch nach Frankfurt geblickt?
Nie. Wir hatten damals ja mal vor, nach Frankfurt zu gehen, hatten sogar schon einen Laden. Das hat sich aber Gott sei dank zerschlagen. Nach Mühlheim kommen die Leute bewusst, um sich die Show anzuschauen. Hier gibt es kein Laufpublikum, dass einfach so reinfällt nach dem Motto: Da ist die Transe, da können wir auch mal klingeln. Auf so was hätte ich überhaupt keinen Nerv. Wir sind keine Thekenkrokodile, sondern wollen Unterhaltung verkaufen. Das haben wir uns so angewöhnt und das soll auch so bleiben.
Wie steht es mit den Planungen für die Rosa-Wölkchen-Sitzungen im kommenden Jahr?
Wir hängen noch. Kein Mensch weiß, was sein wird. Die Zahlen werden steigen. Und was ich nicht glaube, ist, dass sie 2G durchziehen, sondern wieder Quadratmeter-Beschränkungen einführen. Dann muss ich gar nicht erst anfangen. Ich habe ein paar Künstler in petto, die alle nur auf das Ok warten. Aber ich sehe es nicht wirklich.
Würden Sie sagen, Sie sind der geborene Entertainer?
Das hat eine Weile gedauert. Umso mehr ich zurückblicke, denke ich, logisch, das hast du ja schon immer so gemacht, irgendwas angezettelt, Shows ins Leben gerufen. Aber bis zum Entertainer – das hat eine Weile gedauert. Das habe ich in Gerdas kleiner Weltbühne gelernt. Entweder man ist ein Naturtalent wie Gerda oder man lernt es mit viel Arbeit und Disziplin.
Arbeiten Sie bereits an einem Programm, das die Schlagerette ablösen wird?
Ich fange im Oktober mit einem sehr vielversprechenden Nachwuchskünstler an, ein Programm auszuarbeiten. Der fühlt sich einfach berufen zu Travestie. Da bin ich sehr gespannt.
Das Gespräch führte Ronny Paul.