Radtour mit Dietesheimer Urgestein: „Bürger für Mühlheim“ erfahren Historisches über Steinbrüche

Aufbruch zu einer Reise ins Eingemachte der „Basaltköpp“, und wem gebührt der Platz auf dem Führerstand der imaginären Lorenbahn-Lok? Natürlich Hans-Peter Schwenger, dem Dietesheimer Ur-Gestein. Nach Lockdown und Krankheit ist der Bäckermeister wieder ganz der Alte, langweilt seine Zuhörer nicht mit Zahlenkolonnen, sondern lässt sie mit reichlich Anschauungsmaterial und selbst Erlebtem Anteil haben an „seinem“ Mühlheim. Auf seiner ersten Radtour in die Geschichte des Basaltabbaus nach eineinhalb Jahren folgen ihm die „Bürger für Mühlheim“ im Rahmen ihrer Sommerfraktion sowie weitere Interessierte.
Mühlheim – Gleich am Start, an der Unterführung Wingertsweg, erzählt Schwenger, dass dort bis 1970 200 Fuhren geförderten Steins täglich das Nadelöhr Bahnübergang passieren mussten, um zum städtischen Wiegehaus an der alten Schule zu gelangen. Und jeder Fahrer kannte den Schrankenwärter Büchner und Marie Schmitt, die „fesche Marie“ an der Waage. „200 Jahre haben sie die Lava aus dem Vogelsberg abgebaut“, lehrt Schwenger.
Kein Wunder, dass auch die Offenbacher Straßen mit Dietesheimer Pflaster befestigt waren. Auf der Hebestraße am Alten Friedhof liegt es noch frei, und der Bäcker überprüft da gerne „wo’s am Auto klappert“. Am Eingang zum Naherholungsgebiet verhält sich das umgekehrt: Dort war schon geteert, aber in Würdigung der Steinbruch-Tradition ließen die Stadtoberen dort die schweren Wacker in Bodenwellen verlegen. „Nicht fahrradfreundlich“, lautet das Urteil von Stahlross-Ritter Schwenger.
Steine aus Mühlheim wurden in die Niederlande verschifft
Die Basaltköpp dürfen aber auch stolz auf ihren Exportschlager sein: 1958 wurden hunderte Tonnen von der Verladestation an der Schleuse in die Niederlande verschifft, um nach der Sturmflut die Deiche zu stabilisieren. Noch bis 1990 rollten die Loren der Feldbahn an der Hundeführerschule der Polizei vorbei zum heutigen Parkplatz am Main. Am Grünen See erzählt der Stadtführer von einer Ferienhaus-Siedlung, von Badevergnügen, Grasbahnrennen und der Kerb.
„Da war richtig was los“, schwärmt der Zeitzeuge. Ein Karussell, die alte Schiffschaukel und Stände von Metzgern und Bäckern waren da. Sie boten in Kiosken „Leberworscht- und Presskopp-Brötchen“, die Wirte eröffneten Dependancen mit Getränken. Am Strand des „Dietesheimer Licht-, Luft- und Sonnenbades“ standen eine Wasserrutsche und ein handgezimmerter Fünf-Meter-Sprungturm, weiß Schwenger noch, als wäre es gestern gewesen. Jedes Jahr ist jemand ertrunken. Und dann war da noch die Blaue Grotte.
Profiboxer war in den Steinbrüchen zu Hause
Schon bei der Nennung des Etablissements huscht ein Grinsen über die Gesichter der reiferen Generation unter den Radlern. Der Pfarrer hatte von der Kanzel gegen den „Sündenbabel“ gewettert. Ausgerechnet in einer Nacht, als der Strom ausgefallen war und keine Sirene die Feuerwehrleute alarmieren konnte, brannte der Vergnügungstempel bis auf die Grundmauern nieder. Sammler horten bis heute geschmolzenes Kleingeld von der begehrten Theke und andere Souvenirs.
Auf der Kirchweih am See haben sie einen „Kerb-Bürgermeister“ gekürt, berichtet Schwenger noch. Und von Jakob Schöneberger, der auf dem Gelände lebte. Der spätere Profiboxer bestritt 250 Kämpfe, aber nur wenige wussten, dass er in den Steinbrüchen lebte. Auch sein Haus wurde im Zuge des Abrisses aller Gebäude beseitigt. „Nur die Vereinsheime durften bleiben“, ergänzt der langjährige Wehrführer Schwenger. Er führt die Gruppe noch auf die gezimmerten Aussichtspunkte, zunächst auf der Halbinsel hoch über dem Vogelsberger See. In dem Gewässer rudert ein Mann in einem Schlauchboot, was ebenso verboten ist wie das Schwimmen oder das Springen von der Brücke über dem „Canyon“. Darunter ist nur eine schmale Furt für einen Radlader ausgebaggert. Trifft jemand daneben ins Wasser, stößt er auf Fels, was immer wieder zu schweren Unglücken führt.
Weil in den Anrichten der Bewohner bei jeder Sprengung die Gläser klirrten und offenbar auch nicht mehr viel zu holen war, wurde der Basaltabbau 1980 von der Mitteldeutschen Hartstein-Industrie eingestellt. (Von Michael Prochnow)