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Beeindruckender Auftakt der 20. Woche der Toleranz in Neu-Isenburg

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Von: Stefan Mangold

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Die Filmemacherinnen Pamela Sturhoofd (línks) und Jessica van Tijn stellten sich nach der Vorführung den Fragen aus dem Publikum.
Die Filmemacherinnen Pamela Sturhoofd (línks) und Jessica van Tijn stellten sich nach der Vorführung den Fragen aus dem Publikum. © mangold

Zum Auftakt der 20. Woche der Toleranz und Mitmenschlichkeit in Neu-Isenburg war der beeindruckende Dokumentarfilm „Truus‘ Children“ in der Hugenottenhalle zu sehen,

Neu-Isenburg – An Gedenktagen stellen die Redner oft die ritualisierte Frage: Wie können Menschen einander so was nur antun? Warum bekriegen sie sich, schaffen einander irdische Höllen? Das Thema Altruismus steht weit weniger im Fokus, warum sich einige für das Leben anderer in Gefahr bringen. Um so einen besonderen Fall geht es zum Auftakt der „20. Neu-Isenburger Woche der Toleranz und Menschlichkeit“ am Dienstagabend in der Hugenottenhalle. Der Magistrat und Institutionen wie der Verein für Geschichte, Heimatpflege und Kultur (GHK) sowie die Seminar- und Gedenkstätte Bertha Pappenheim haben unter der Schirmherrschaft der Stadtverordnetenvorsteherin Christine Wagner zur Vorführung des Dokumentarfilms „Truus’ Children“ eingeladen. Die niederländischen Filmemacherinnen Pamela Sturhoofd und Jessica van Tijn beantworten im Anschluss Fragen aus dem Publikum.

Kaum jemandem dürfte Geertruida Wijsmuller-Meijer ein Begriff sein. Die 1978 im Alter von 82 Jahren verstorbene Holländerin beschreibt Christina Wagner in ihrer Begrüßung als „resolut und nicht auf den Mund gefallen“. Sie trug den Beinahmen „Tante Truus“. Pamela Sturhoofd und Jessica van Tijn stellen die Tonbandaufnahmen der Frau ins Zentrum ihres Films, ansonsten erzählen jene, die Wijsmuller-Meijer kannten und auch manche, die sie niemals kennen gelernt hatten, aber ihr wohl das Leben verdanken.

Tante Truus rettete mehr als 10 000 jüdische Kinder, in dem sie ihre Evakuierung in sichere Länder organisierte, vor allem nach der Pogromnacht 1938. Eine Frau, die zu den evakuierten Kindern gehörte, erzählt, wie sie selbst und ihre Mutter beim Abschied am Bahnhof nicht weinen, um dem Moment die Dramatik zu nehmen, den Gedanken, dass es ein Abschied für immer sein kann.

Eine andere berichtet, wie sie in späteren Jahren einmal das Gefühl beschlich, niemand könne sie sehen, „als sei ich aus Pergament“. Ein Psychologe habe ihr das Empfinden als das „Verlassene-Kind-Syndrom“ erklärt.

Um die Kinder zu retten, ging Tante Truus ins Haus der personalisierten Banalität des Bösen, zu Adolf Eichmann, der damals die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien leitete. „So rein arisch und so verrückt“ soll der SS-Mann sie empfangen haben. Im Film beschreibt ein Mann Tante Truus als eine Frau, „deren Stimme du auf der anderen Straßenseite noch deutlich hörtest“. Sie ging mit deutschen Offizieren saufen, wenn es was brachte. Angst habe sie nicht gekannt. Eichmann bot ihr in den Zeiten vor der Wannseekonferenz, auf der die Nazis die Vernichtung der Juden beschlossen, an, sie dürfe in einer engen Frist 600 Kinder mit nach England nehmen. Wenn sie das schaffe, könne sich das Kontingent auf 10 000 erhöhen. Es klappte.

Wijsmuller-Meijer teilte nach dem Krieg ein ähnliches Schicksal wie Oskar Schindler, der über 1000 seiner jüdischen Zwangsarbeiter unter dem Verlust seines Vermögens vor der Vernichtung bewahrte. Beiden verlieh die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem den Titel „Gerechter unter den Völkern“. Nach dem Krieg hatte sich weder die deutsche noch die niederländische Gesellschaft für ihre Geschichte interessiert. Einer, der Geertruida Wijsmuller-Meijer kannte, benennt das Unbehagen bei dem Gedanken, „eigentlich hätte auch ich was machen müssen“.

Die Frage, warum Wijsmuller-Meijer so viele Kinder rettete, lässt sich letztlich nicht beantworten. Im Film kommt die Kinderlosigkeit ihrer Ehe zur Sprache oder auch der Charakterzug, „dass sie die Gefahr mochte“. Vielleicht lässt es sich der Grund auch schlicht beantworten: Weil sie es konnte.

Es gibt auch einen Bezug zu Neu-Isenburg. Die Spurensuche hat die beiden Filmemacherinnen auch in das ehemalige Heim des Jüdischen Frauenbunds geführt. Bei ihren Recherchen erfuhren sie, dass eine der noch lebenden ehemaligen Bewohnerinnen des Heims als kleines Mädchen von zwei Jahren nach der Pogromnacht durch einen von Wijsmuller organisierten Kindertransport gerettet werden konnte. Deshalb ist der beeindruckende Film „Truus’ Children“ auch ein wichtiges Stück Zeitgeschichte für Neu-Isenburg.

Von Stefan Mangold

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