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Hausgeburten sind in Neu-Isenburg kaum noch ein Thema

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Keines der vier Kinder von Andrea Grüschow wurde in einem Krankenhaus geboren. Johanna (rechts) kam im Geburtshaus zur Welt, Annabelle und ihre Brüder Noah und Arian (links) sind Hausgeburten. 
Keines der vier Kinder von Andrea Grüschow wurde in einem Krankenhaus geboren. Johanna (rechts) kam im Geburtshaus zur Welt, Annabelle und ihre Brüder Noah und Arian (links) sind Hausgeburten.  © air

Alle Jahre wieder erklingt in der Adventszeit das Weihnachtslied „Ihr Kinderlein kommet“. Doch wo werden Kinder heute eigentlich geboren? Fast alle schwangeren Frauen entscheiden sich, ihr Kind in einem Krankenhaus zur Welt zu bringen. Hausgeburten mit einer Hebamme an der Seite sind absolut selten. Seit 1971, dem ersten Jahr ohne eine einzige Hausgeburt in der Stadt, steht in immer weniger Personalausweisen der Geburtsort Neu-Isenburg.

Neu-Isenburg - Alle Hausgeburten der vergangenen zehn Jahre reichen in der Summe nicht aus, um eine gemischte Fußball-Elf zusammenzustellen, gerade einmal eine Handballmannschaft käme zusammen. „Zwei, eins, null, keine“ – eine dieser vier Angaben und keine größere Zahl steht seit fast fünf Jahrzehnten in der Hausgeburten-Jahresstatistik, die Daniela Neuhaus, Leiterin des Standesamtes im Rathaus, auf Nachfrage unserer Zeitung aus dem Archiv holt.

Früher war es die natürlichste Sache der Welt, dass eine Frau zuhause entbindet. Wenn die Schwangerschaft ohne Probleme verlief, wurde das Kind dort geboren, wo die Eltern wohnen. Vor 100 Jahren kamen in Neu-Isenburg fast 200 Kinder im Kreise der Familie und mit Unterstützung einer Hebamme zur Welt. Niemand kam auf die Idee, in ein Krankenhaus zu fahren, um dort zu gebären. Doch von Jahr zu Jahr ging die Zahl der Hausgeburten in Neu-Isenburg zurück.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren es nur noch knapp 50 Schwangere, die sich für die Geburt zuhause entschieden, bis 1971 zum ersten Mal kein einziges Kind in der Stadt zur Welt kam. 1964, dem Jahr des geburtenstärksten Jahrgangs in Deutschland, wurden in Isenburg 612 Kinder gemeldet und 40 Hausgeburten gezählt. Das entspricht noch 6,5 Prozent. Vergangenes Jahr erblickten nach Angaben des Rathauses 438 Mädchen und Jungen das Licht der Welt, davon nur ein Kind zuhause.

Jede Frau kann für sich selbst entscheiden, wo sie ihr Kind zur Welt bringen möchte. Eine Hebamme ist immer dabei, sie dürfen laut Gesetz Schwangerschaften begleiten und Geburten ohne ärztliche Hilfe betreuen und entbinden. Hebammen haben sogar mehr Rechte als Ärztinnen oder Ärzte. Sie müssen bei einer Entbindung eine Hebamme hinzuziehen. „Wir kämpfen dafür, dass diese Verpflichtung nicht wegfällt“, sagt die Neu-Isenburger Hebamme Gabriele Jokerst.

Bundesweit fällt die Wahl in rund 99 Prozent der Fälle auf ein Krankenhaus. Die Zahl der Hausgeburten steigt leicht an. Nach Angaben der Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe liegt der Anteil derzeit bei rund 1,8 Prozent.

Verlässliche Zahlen sind nur schwer zu bekommen. Auch das Hessische Statistische Landesamt hat keinerlei Daten zu Hausgeburten gesammelt. Die Gesundheitsberichterstattung des Bundes liefere dazu keinerlei Information, heißt es auf Anfrage.

Die Geburt in einem Krankenhaus kam für die Isenburgerin Andrea Grüschow nie in Frage. Die Mutter von vier Kindern hat ihre Tochter Johanna 2001 im Geburtshaus Frankfurt zur Welt gebracht und sich nach den positiven Erfahrungen bei ihren drei weiteren Kindern für eine Hausgeburt ausgesprochen. Nach dem guten Verlauf der Schwangerschaften erblickten 2003 Noah, 2005 Annabelle und 2007 Aria zuhause das Licht der Welt. „Du kannst eine Hausgeburt nur machen, wenn du dir selbst absolut sicher bist und totales Vertrauen zur Hebamme hast“, sagt Grüschow. Die drei Geburten zuhause in der gewohnten Umgebung, in schönem Ambiente mit warmen Licht und dem Kaminfeuer im Hintergrund seien für sie eine wundervolle Erfahrung gewesen, die für eine starke Bindung zu den Kindern gesorgt habe. „Ich habe die Entscheidung nie bereut, das waren tolle Erlebnisse, für die ich dankbar bin“, sagt die Physiotherapeutin. Bei einer Geburt in vertrauter Umgebung fühlten sich Frauen meist wohler. Grüschow hat sich damals im Gespräch mit anderen allerdings auch schon mal anhören müssen, dass eine Hausgeburt verantwortungslos sei.

Die Neu-Isenburgerin Ellen Kliche hat im März 1954 ihren ersten Sohn Ralf in ihrer Wohnung in der Schillerstraße zur Welt gebracht. Im selben Jahr gab es 105 weitere Hausgeburten, die von einer Hebamme begleitet wurden: Margareta Müller. „Die Hebamme wohnte ja nur zwei Häuser von uns entfernt“, erinnert sich die 95-jährige Ellen Kliche, die ihr erstes Kind nicht im kalten Schlafzimmer, sondern im Wohnzimmer, wo der Holzofen stand, geboren hat. Die berühmte Hebamme Müller (siehe Infobox) half rund 2800 Frauen bei der Geburt.

Auch heute sind Hebammen sehr gefragt. Es gibt aber zu wenige. Eine Geburtshelferin finden, ist vergleichbar mit der Herbergssuche von Maria und Josef. Frauen sollten sich im Falle eines positiven Schwangerschaftstests sofort auf die Suche nach einer Hebamme begeben, so die Empfehlung erfahrener Fachkräfte. In Neu-Isenburg gibt es keine einzige Hebamme mehr, die Hausgeburten begleitet. „Bei der ambulanten Versorgung haben wir einen eklatanten Mangel“, sagt Gabriele Jokerst. Das hänge auch mit den gestiegenen Versicherungsbeiträgen für Hebammen von bis zu 8000 Euro im Jahr zusammen.

„Frauen werden nach der Geburt sehr früh aus dem Krankenhaus entlassen“, weiß Beatrix Schade, Inhaberin der Neu-Isenburger Hebammen-Praxis „Von Anfang an“, die 1992 das Geburtshaus Frankfurt mitgründet hat. Hebammen haben für sie eine hohe moralische Verpflichtung und emotionale Verantwortung gegenüber den Schwangeren. Frauen, die keine Hebamme fänden und Schwierigkeiten hätten, stellen das Stillen ein. Das habe Folgen für die Gesundheit des Säuglings.

Die Ausbildung zur Hebamme wird im nächsten Jahr akademisiert. Nach Darstellung von Christiane Anfang, Sprecherin des Kreisverbandes Offenbach der Hebammen, ist künftig ein Studiengang mit sechs Semestern bis zum Bachelor nötig. „Hausgeburten bleiben weiterhin die große Ausnahme, da das Sicherheitsdenken enorm ist“, sagt Anfang, die zwei ihrer vier Kinder zuhause zur Welt gebracht hat. Nach der Geburt gehe die Kontrolle der Babys oftmals so weit, dass Überwachungsmatratzen und Videokameras im Kinderzimmer eingesetzt würden. Anfang hat bei der Anmeldung ihrer zuhause geborenen Kinder im Rathaus eine Überraschung erlebt. Als es um die Eintragung des Geburtsortes ging, ließ das Computerprogramm nur Städte mit Krankenhäusern – wie etwa Langen oder Frankfurt – zu. Der tatsächliche Geburtsort habe gar nicht eingetragen werden können.  air

Kita im Backsteingebäude nach Hebamme benannt

Als Wertschätzung des Engagements von Margareta Müller (1913 bis 1958) wird die im historischen Gebäude der ehemaligen Bundesmonopolverwaltung geplante Kindertagesstätte den Namen der Hebamme tragen. Sie war eine Institution in Neu-Isenburg – und unter anderem Geburtshelferin von Bürgermeister Herbert Hunkel. Bis voraussichtlich Herbst 2024 soll in der Kita für das Stadtquartier Süd in sieben Gruppen Platz für die Betreuung von bis zu 136 Kindern geschaffen werden. 

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