Inklusion ist keine Einbahnstraße

Neu-Isenburg - Es heißt längst nicht mehr taubstumm. Weniger weil sich das Wort politisch inkorrekt anhört, sondern eher, weil der Begriff schlichtweg falsch ist. Von Stefan Mangold
„Stumm ist Lysander schließlich nicht“, sagt Martina Löffler-Happ, die Leiterin der Evangelischen Kindertagesstätte in Gravenbruch.
Seit 2011 besucht der sechsjährige Junge den Kindergarten am Dreiherrnsteinplatz. Am Anfang sei sie ein wenig nervös gewesen, als sie erfuhr, ein gehörloses Kind solle einen Platz bekommen, erinnert sich Löffler-Happ. Das gab sich sofort, als Yvonne Hartig vorbeischaute, die Mutter von Lysander. Auch seine Eltern sind gehörlos. Die Kommunikation mit der Leiterin läuft schriftlich. Mit den Erzieherinnen kann Yvonne Hartig, die als Schreinerin am Theater in Wiesbaden arbeitet, jedoch ein wenig in Gebärdensprache kommunizieren. Sarah Haenel und Renate Wieck, zuständig für die Gruppe von Lysander, belegten an der Volkshochschule in Offenbach einen entsprechenden Kurs, den ein Gehörloser leitet.
Natürlich mussten sich die Kinder erst mal daran gewöhnen, mit jemandem zu spielen, der auf Zuruf nicht reagiert. Dass Inklusion, der gemeinsame Unterricht von gesunden und behinderten Kindern, keine Einbahnstraße sei, zeige das Beispiel mit Lysander deutlich.
„Motorisch ist er super fit, basteln kann er sehr gut.“
Martina Löffler-Happ beobachtet, dass es Kindern mit Migrationshintergrund, die mit dem gehörlosen Bub in einer Gruppe sind, leichter fällt, sich neue Vokabeln zu merken. Das wundert nicht. Es hilft beispielsweise beim Wörterlernen, sich irgendwelcher Eselsbrücken zu bedienen, ein lateinisches „dare“ oder englisches „give“ etwa mit einem ausgestreckten Arm zu verbinden, der ein „Geben“ andeuten soll. Lysander musste sich hingegen daran gewöhnen, mit Menschen zu kommunizieren, die ihn nicht verstehen, die gegenüber seinen Gebärden erst einmal ähnlich wie der Ochse vor dem Berg stehen.
Generell seien die Kinder im Umgang miteinander aufmerksamer geworden. „Sie nehmen eher wahr, wenn ein anderer Hilfe braucht. Auch die Erzieherinnen bemerkten rasch Veränderungen. Bei einem gehörlosen Kind macht es schließlich keinen Sinn, ihm hinterherzurufen, es solle sich die Jacke anziehen, bevor es raus geht. Das führte zu einem veränderten Umgang mit den anderen Kindern. „Sie wenden sich automatisch mimisch auch den hörenden stärker zu als früher“, beobachtet die Leiterin.
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Wer Lysander zuschaue, der ein Hörgerät trägt, weil er kleine akustische Impulse wahrnehmen kann, dem falle nicht auf, dass der Junge anders ist als die anderen. „Motorisch ist er super fit, basteln kann er sehr gut.“ Im Moment lernt Lysander auch sprechen. Das hört sich bei Gehörlosen anfangs ungewohnt an, weil die Modulationen fehlen. Freude und Wut drückten sich ihm genauso aus wie bei seinen Altersgenossen, „er lacht oder stampft mit dem Fuß auf“.
Momentan besucht Lysander zweimal in der Woche den Vorlaufkurs in der Ludwig-Uhland-Schule, nur ein paar Meter von seinem Kindergarten entfernt. Die Zusammenarbeit mit der Schulleiterin Doris Keiber funktioniere sehr gut. Wie es aussieht, kann Lysander im nächsten Jahr in der ersten Klasse dort anfangen.
Vor kurzem drehte ein Fernsehteam des Bayerischen Rundfunks zwei Tage im Kindergarten für einen Film über die Integration von Gehörlosen und frühkindlichen Spracherwerb. Das Ergebnis zeigt das Bayerische Fernsehen am Samstag, 11. Oktober, um 10 Uhr in der Sendung „Sehen statt Hören“.