Neu-Isenburg: Flakstellungen sind Mahnung gegen den Krieg

Begreifbare Geschichte: Ein eindrucksvolles und differenziertes Bild über die Geschichte der Flakstellungen in Neu-Isenburg bietet der Geschichtsverein GHK mit einem neuen Film und einer Dokumentation.
Neu-Isenburg – Die Zeitzeugen, die sich an den Bombenabwurf am 29. Januar 1944 erinnern können, werden immer weniger. Umso wichtiger ist aus Sicht des Magistrats das Erinnern an die Opfer, auch als Mahnung gegen den Krieg – heute mehr denn je. „Im letzten Jahr haben wir schmerzlich erfahren, dass der Frieden in Europa nicht selbstverständlich ist. Putins Angriffskrieg hat Leid und Elend in unvorstellbarem Maß über die Menschen gebracht. Noch nie war es so wichtig, Zeichen zu setzen“, sagt Bürgermeister Gene Hagelstein. Deshalb organisiert die Stadt auch in diesem Jahr am 29. Januar, 11.30 Uhr, eine Kranzniederlegung am Gedenkstein im Schindkautweg: „Wir gedenken am 29. Januar allen durch Krieg, Gewalt und Terror aus dem Leben gerissenen Menschen.“
Kaum irgendwo kann man sich noch heute so eindringlich ein Bild machen von den damaligen Geschehnissen, wie an der ehemaligen Flakstellung, die fast unzerstört in der Isenburger Ostgemarkung zu sehen ist. Einzigartig in Hessen – so schätzte der Sachverständige des Landesamtes für Denkmalpflege die besonders gut erhaltene Anlage im Brüllochsenweg in der Luderbachaue ein, weshalb diese 2018 in die Denkmalschutzliste des Landes aufgenommen wurde.
Zu verdanken ist das bekanntlich in erster Linie dem Verein für Geschichte, Heimatpflege und Kultur (GHK) und dem Dreieicher Heimatforscher Dr. Wilhelm Ott, der aufwendig zum Thema recherchiert hat. Verständlich wird die Geschichte des Ortes auch durch die 80-seitige Dokumentation, die der GHK herausgegeben hat. Das Autorenteam Ott und Dr. Ferdinand Stegbauer recherchierte in zuvor unveröffentlichten Quellen und interviewte Zeitzeugen, die ein sehr eindrucksvolles, differenziertes Bild ermöglichen. Ein solches erhält nun zudem, wer den neuen, gut 13-minütigen Film anschaut, den der GHK diese Woche vorgestellt hat. Macher Hans-Walter Schewe und Sprecher Ott machen darin nicht nur anhand von Karten und – alten wie neuen – Luftbildern die Zusammenhänge und die Lage der einzelnen Stellungen deutlich.
Bewegend ist die Rede von Georg Simrock, der mit 15 Jahren als Luftwaffenhelfer in Isenburg eingesetzt war. Bei der Gedenkfeier 2019 am Schindkautweg erinnerte er – exakt 75 Jahre nach dem 29. Januar 1944 – an das schreckliche Geschehen von damals. „Eine Geschützstellung wurde durch einen Volltreffer zerstört und bei unserer Stellung wurde der Erdwall getroffen. Wäre die Bombe auch nur eine hundertstel Sekunde später abgeworfen worden, hätte sie voll unseren Stand getroffen und unsere Leben ausgelöscht“, hört man Simrock im Film sagen.
Einige der seltenen Farbaufnahmen von 1944 sind ebenfalls zu sehen, die ein Major mit einer der damals neu entwickelten Leica-Kameras aufgenommen hatte. Am Ende verweist der Sprecher darauf, in der GHK-Broschüre werde auch auf die große Pazifistin und Schriftstellerin Bertha von Suttner (1843-1914) eingegangen, die 1905 als erste Frau den Friedensnobelpreis erhielt. In ihren Schriften kämpfte sie für eine stabile Friedensordnung ohne Waffen, „sie ist heute noch hoch geachtet, obwohl ihr Kampf offensichtlich vergeblich war“. 2019, im Jahr der Publikation der Broschüre, sei die Gewissheit groß gewesen, dass sich zumindest in Europa ihr Traum – „Nie wieder Krieg“ – erfüllen sollte. „Wir haben uns leider täuschen lassen.“ Mit diesen Worten endet der Film.
Lange hatten die Überreste der Flakstellungen mehr oder weniger unbemerkt in Isenburg geschlummert – bis Ott vor einigen Jahren einen Hinweis auf „Betonteile“ im Wald erhielt, wie er nun auf Einladung des GHK bei einem Winter-Spaziergang erzählt. Er begann zu recherchieren, suchte vor Ort und fand diverse Stellungen, die im Gelände noch erkennbar sind.
Bei seinen Streifzügen stieß der Dreieicher auch auf manches Kuriosum. Er erzählt von einem Haus in der Erlenbachaue, das nach dem Krieg in eine ehemalige Flakstellung hineingebaut worden war. Lange habe dort gar jemand gewohnt, auch wenn man dies offiziell nie durfte. 2001 wurde dieses Haus jedoch abgerissen. Denn seither ist die Erlenbachaue Landschaftsschutzgebiet.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden in der Ostgemarkung drei Flakbatterien mit je sechs kreisförmig positionierten Flakstellungen erbaut (Flak = Flugabwehrkanone). Jede Stellung war mit einem Geschütz des Kalibers 8,8 Zentimeter bestückt. Auf einem Luftbild von 1944, zu sehen auf einer Infotafel vor Ort, sind diese Stellungen deutlich zu erkennen. Zu jeder gehörten auch große Scheinwerfer, die die anfliegenden Bomber in den Lichtkegel nehmen sollten.
Die Batterien waren 1943/44 mit einigen wenigen regulären Soldaten, russischen Kriegsgefangenen und jugendlichen Luftwaffenhelfern bemannt. Die häufig erst 14--jährigen Luftwaffenhelfer waren Oberschüler aus Stadt und Kreis Offenbach. Sie wurden aus ihren Schulen zum Flakdienst geholt.
Bei dem Bombenabwurf am 29. Januar 1944 starben fünf jugendliche Luftwaffenhelfer, vier kriegsgefangene so genannte „Hilfswillige“, die diesen Dienst aber keinesfalls freiwillig leisteten, und der 28-jährige Geschützführer Josef Niggel. Zwei der getöteten Schüler waren die erst 15-jährigen Isenburger Klaus-Dieter Johannsen und Gerhard Siebenborn. Wie die überlebenden Luftwaffenhelfer berichteten, leisteten sie ihren Dienst in der Gewissheit, Volk und Vaterland zu verteidigen. Erst später wurde ihnen bewusst, dass sie ihre Jugend einem verbrecherischen System opfern mussten. Geblieben sind oft nur traumatische Erinnerungen.
Nach dem Krieg wurden die Flakstellungen als Behelfsunterkünfte genutzt, sofern sie nicht gesprengt oder beseitigt worden sind. Von der nördlichen Batterie ist heute praktisch nichts mehr vorhanden. Die südliche ist teilweise von der Geschwister-Scholl-Halle überbaut; die Ruinen von vier Stellungen sind dort noch im Unterholz und auf der Wiese nördlich des Luderbachs zu finden. Der Splitterschutzbunker aus Beton, der lange nahe der Geschwister-Scholl-Halle lag, wurde 2019 mit sehr großem Aufwand in den inzwischen umzäunten Bereich am Brüllochsenweg gebracht.
„Keineswegs soll mit dieser Unternehmung einer Verherrlichung des Krieges das Wort geredet werden“, stellt Altbürgermeister und GHK-Vorsitzender Herbert Hunkel beim Rundgang klar. „Es ist vielmehr ein Mahnmal der Zeitgeschichte.“
Der DLB beseitigt an der denkmalgeschützten Anlage regelmäßig Brombeerranken und anderen Bewuchs. Mit der Denkmalschutzbehörde hatte die Stadt seinerzeit entschieden, „die anderen Relikte der Flakstellungen in Würde altern zu lassen. Im Laufe der Zeit werden sie von stacheligem Gestrüpp überwuchert sein“, heißt es im Film. Entsprechend erstaunt sind die Ortskundigen nun, als sie beim Spaziergang feststellen, dass eine Anlage, die sehr zugewuchert war, plötzlich freigeschnitten ist. Es handele sich um ein Versehen, vermutet Hunkel; „dann wird sie halt wieder überwuchern“.
Wo es Buch und Film gibt
Die GHK-Broschüre „Die ehemaligen Flakstellungen in der Neu-Isenburger Ostgemarkung: Eine Dokumentation gegen das Vergessen“ ist in der Stadtbibliothek und im Bürgeramt zum Selbstkostenpreis von 15 Euro erhältlich. Der Film ist abrufbar über die GHK-Internetseite (ghk.schewe-it.de).
Von Barbara Hoven

