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Sanitätsverein Neu-Isenburg verschickt kurzfristig Kündigungen

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Der Sanitätsverein ist der älteste Pflegedienst Deutschlands, der schon im Jahr 1861 als Verein in Ermangelung einer Krankenkasse eine sogenannte Doktor- und Schwesternkasse einrichtete.
Der Sanitätsverein ist der älteste Pflegedienst Deutschlands, der schon im Jahr 1861 als Verein in Ermangelung einer Krankenkasse eine sogenannte Doktor- und Schwesternkasse einrichtete. © air

Der Druck in der Pflegebranche wird immer größer, weil die Zahl der zu Pflegenden wächst und auf dem Arbeitsmarkt kaum noch Fachkräfte zu finden sind. In Neu-Isenburg gibt es eine Handvoll ambulanter Pflegedienste, von denen fast alle permanent Mitarbeitende suchen. Auch der gemeinnützige Sanitätsverein hat ein großes Personalproblem und vakante Stellen. Die Situation eskalierte, sodass einigen Patienten wegen fehlender Fachkräfte sogar der Pflegevertrag gekündigt werden musste.

Neu-Isenburg - Der älteste Pflegedienst Deutschlands, der schon 1861 als Verein in Ermangelung einer Krankenkasse eine sogenannte Doktor- und Schwesternkasse einrichtete, musste wegen „eines beachtlichen Personalrückgangs“ Mitte Dezember die Reißleine ziehen und einigen Bürgerinnen und Bürgern den Pflegevertrag kurzfristig kündigen. Das hat bei den betroffenen Patienten für Verärgerung gesorgt und Kündigungen der Mitgliedschaft im Sanitätsverein zur Folge.

„Der Pflegenotstand hat auch uns erfasst. Wir können eine kontinuierliche und regelmäßige Pflege nicht mehr weiter gewährleisten“, schrieb Volker Münch, Geschäftsführer des Sanitätsvereins, kurz vor Weihnachten in einem Brief zur „Beendigung der Pflege und Versorgung“. Diese Worte erinnern an das Frühjahr vor zwei Jahren, als der Sanitätsverein am Limit arbeitete und die ambulante Pflege im Stadtteil Zeppelinheim aufgrund von mehrfachem Personalausfall aufgeben musste.

„So kann man doch nicht mit uns umgehen“, schimpft ein älterer Mann mit Pflegegrad 3, der seit Jahrzehnten dem Sanitätsverein angehört, diesen jetzt aber verlassen werde. Er empört sich vor allem, weil die Mitteilung der Kündigung zum 15. Dezember 2021 offiziell mit einem Brief kam, der genau dasselbe Datum trägt. Am Ende des Kündigungsschreibens verspricht der Sanitätsverein, den Betroffenen bei der Suche nach einem anderen Pflegedienst zu helfen und nennt die Kontaktdaten von vier anderen Dienstleistern.

Der Geschäftsführer des Sanitätsvereins bestätigt auf Anfrage das Datum des Briefes (15. 12. 2021), in dem es heißt, „wir sehen uns nicht mehr in der Lage, die Versorgung über den 15. 12. 2021 hinaus weiter durchzuführen“. Volker Münch betont, dass schon im Vorfeld mit den Betroffenen gesprochen worden sei. Der Sanitätsverein begründet die Kündigungen und die Reduzierung der Touren damit, dass zwei Pflegekräfte in den Ruhestand gegangen seien, zwei weitere sich beruflich verändert hätten, „seit sechs Monaten eine Langzeiterkrankte zu beklagen“ sei und man „bereits die ersten zwei Abgänge von Pflegekräften zu verzeichnen“ habe, weil sie den hohen Arbeitsaufwand nicht mehr mittragen könnten, schreibt der Sanitätsverein.

Aus dem Kreis der Beschäftigten und ehemaliger Mitarbeitender gibt es indes Kritik am Sanitätsverein, die sich um das Arbeitsklima und den Ton des Geschäftsführers dreht. Dieser soll gesagt haben, die älteren Pflegekräfte könnten gehen, er brauche sie nicht. Beim Sanitätsverein wehe jetzt ein anderer Wind. Der Mann soll Probleme damit haben, wenn man ihm widerspreche. Diese Vorwürfe weist der Geschäftsführer im Gespräch mit unserer Zeitung zurück. Er gehe respektvoll und höflich mit den Beschäftigten um. Für ihn seien Zufriedenheit und ein gutes Klima am Arbeitsplatz wichtig. „Hier gibt es keinen Kasernenton“, sagt er. Volker Münch ist zuversichtlich, dass der Sanitätsverein in diesem Monat wieder neue Patienten annehmen könne.

Beim Blick in die Zukunft malt Münch jedoch ein düsteres Bild von der Pflegebranche und kritisiert, dass die Politik das Thema Fachkräftemangel vernachlässigt und nicht richtig anpackt habe. Da sie keine Mitarbeitende fänden, hätten einige Pflegedienste bereits dicht gemacht. Die schlechte Bezahlung der Dienstleistung für pflegebedürftige Menschen sei nur ein Teil des Problems, sagt Volker Münch und nennt Beispiele. Es gebe zwei Euro für das Wechseln von Kompressionsstrümpfen oder 7,80 Euro für eine Wundversorgung. Mit Blick auf die demografische Entwicklung mit immer mehr älteren Menschen werde die Situation künftig noch schlechter.

Welche Auswirkungen die von Mitte März an geltende Corona-Impflicht für Menschen in Pflegeberufen haben wird, ist noch nicht abzusehen. Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste befürchtet allerdings, dass die Personalnot dadurch größer werde. Einige Mitarbeitende hätten bereits angekündigt, in ihrem Pflegeberuf aufzuhören. Dem gegenüber stehen immer mehr Menschen, die Hilfe benötigen. Die Zahl der Pflegebedürftigen ist laut Statistischem Bundesamt in den vergangenen 20 Jahren um rund 70 Prozent gestiegen. Die Versorgungslücke im Pflegebereich insgesamt könne sich bis 2035 auf knapp 500 000 Fachkräfte vergrößern, so die Prognosen.

Über klassische Stellenanzeigen findet man nach Darstellung von Markus Munari vom Neu-Isenburger Pflegedienst „Liberté“ schon lange keine Fachkräfte mehr. Über das Anwerben durch Dritte könne man eher gute Pflegekräfte gewinnen. „Wir suchen seit Gründung des Unternehmens 2010 ständig Leute. Als Pflegekraft ist heute niemand auch nur 24 Stunden arbeitslos“, sagt Markus Munari.    air

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