Bloß keine Höhenangst

Jügesheim – Die Wendeltreppe zur Orgel-Empore der Kirche St. Nikolaus ist nur etwas für schlanke Leute. Eng und steil führt sie hinauf. Nach dem Durchgang zur Empore geht es noch ein paar Runden weiter. Aber kurz oberhalb der Orgel hört der weiße Verputz auf. Das rohe Mauerwerk wird sichtbar. Ziegelsteine, 150 Jahre alt. Die Treppe endet an einer winzigen Plattform, kaum größer als einen Quadratmeter. Ein Riegel schabt beim Öffnen. Eine niedrige Holztür schwingt uns entgegen.
Vorsicht, Kopf einziehen! Der gewölbte Durchgang ist noch niedriger als die Tür. Wer nicht aufpasst, eckt an. Nach ein paar Schritten führen acht dicke Sandsteinblöcke als Stufen weiter hinauf. Durch eine Dachluke scheint die Sonne herein.
Ein Druck auf den Lichtschalter – und vor uns erstreckt sich der Dachboden über dem Kirchenschiff. Wir sehen die Oberseite des neugotischen Spitzbogengewölbes. Die regelmäßigen Vertiefungen erinnern an die Kraterlandschaft eines Eierkartons. Holzbohlen führen darüber hinweg. Über uns erhebt sich das Kirchendach.
Dieser Raum wird höchstens alle ein, zwei Jahre betreten – nämlich dann, wenn die Messingleuchten in der Kirche poliert werden. Dann steigt jemand ins Dachgeschoss und lässt eine Pendelleuchte nach der anderen hinab. Unten klettert ein Helfer aufs Gestühl und wartet, bis die Hängelampe in Reichweite ist. Früher war diese Prozedur auch zum Wechseln der Glühbirnen notwendig. Im Zeitalter der LED-Leuchtmittel ist das aber passé.
Wie tragfähig ist die Gewölbedecke eigentlich? Die Oberfläche sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus. Irgendein gelbes Material. Kann man darauf stehen oder bricht man durch?
Der Jügesheimer Architekt Norbert Beck beruhigt mich: „Es ist ein gemauertes Gewölbe, vermutlich mit Klinkersteinen.“ Beck kennt die Nikolauskirche so gut wie wohl kein Zweiter. Welche Sorte Steine in der Kirchendecke verbaut ist, kann auch er nicht sagen: Das Spitzbogengewölbe ist so gleichmäßig verputzt, dass es keinen Rückschluss auf das Baumaterial erlaubt. Und von oben ist das Steingewölbe ja auch abgedeckt. Aber womit? Was ist das für ein gelbes Zeug? Die überraschende Antwort: Bauschaum!
„Ich kenne das aus Messdienerzeiten, da wurde Bauschaum als Wärmeschutz aufgebracht“, erzählt Norbert Beck. Aus Sicht des Denkmalschutzes könne man das heute sicher infragestellen, aber damals hätte man in guter Absicht gehandelt: „Da ist schon eine riesige Abstrahlfläche im Dachraum. Wenn es minus 10 Grad kalt ist, bringt so eine Dämmung schon etwas. Man kann ja an einer Kirche nicht die Außenwände dämmen.“
Die sichtbaren Außenwände bestehen aus rotem Mainsandstein, die Rundpfeiler innen ebenfalls. Weiter oben im Kirchenschiff haben die Baumeister gemogelt: Die Gurtbögen sind lediglich verputzt und rot angemalt. Darunter verbergen sich preiswertere Ziegelsteine. Dem Gesamteindruck tut das keinen Abbruch. Auf dem Dachboden war es nie notwendig, Fassadenkosmetik zu betreiben. Außer dem Küster oder ein paar Handwerkern kommt dort nie jemand hin.
Diesmal sind wir über das Orgeltürmchen ins Dach gestiegen. Es gibt noch einen zweiten Aufgang im Glockenturm – nichts für Leute mit Höhenangst. Aber das ist eine andere Geschichte.



