Frühförderung in Gefahr

Eine Schule in Friedberg bietet hörgeschädigten Kindern und deren Eltern in einem Spezialprojekt während mehrtägiger Aufenthalte Lebenshilfe. Einige Landkreise – darunter der Landkreis Offenbach – verweigern nun die Kostenübernahme. Familie Karamitsos und deren tauber Sohn Alexandros leiden darunter.
Jügesheim – Seit 1973 besteht an der Friedberger Johannes-Vatter-Schule die stationäre Wechselgruppe. Ganztags lernen dort hörgeschädigte Kleinkinder in speziellen Therapien, Defizite auszugleichen und bereiten sich unter anderem auch auf die Grundschule vor. Dazu leben die Familien ein paar Tage in dem überregionalen Beratungs- und Förderzentrum mit dem Schwerpunkt Hören.
Seit der Landeswohlfahrtsverband (LWV) mit Novelle des Teilhabegesetzes als Kostenträger nicht mehr zuständig ist, müssen die Landkreise einspringen. Das machen aber nur zehn von 18. Markant: Während der Wetteraukreis und der Landkreis Darmstadt-Dieburg Eltern und Kindern die zusätzliche Frühförderung noch bezahlen, unterlässt dies der Landkreis Offenbach. Die Gründe dafür nennt eine Pressesprecherin des Kreises: „Es ist unstrittig, dass das Kind der Familie aus Jügesheim Anspruch auf Frühförderung hat. Die Wechselgruppe bietet allerdings auch Dinge an, die nicht von der Eingliederungshilfe, sondern anderen Kostenträgern wie den Krankenkassen getragen werden müssen, etwa Bewirtung und Übernachtung.“ Vor allem aber fehle nach Paragraf 123 Sozialgesetzbuch 9 die gesetzliche Grundlage dafür, dass der Kreis die Maßnahme in Friedberg bezahlen könne: eine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung, die konkret alles Angebotene und die Kosten auflistet, sodass daraus klar ersichtlich werde, bei welchem Kostenträger sich der Kreis eventuell vorgestrecktes Geld wiederholen könne.
„Eine solche Vereinbarung ist Voraussetzung dafür, dass so etwas generell läuft.“ Der Kreis Offenbach sperre sich keineswegs gegen Hilfe für den kleinen Alexandros. „Es wurden 60 Einheiten mit einer Logopädin genehmigt.“ Warum aber zahlen dann der Wetteraukreis und der Landkreis Darmstadt-Dieburg noch? „Eventuellen Einzelfallausnahmen können wir nicht folgen. Diese Möglichkeit sehen wir nicht. Es handelt sich bei der Wechselgruppe schließlich nicht um ein Einzelangebot, sondern um ein Gruppenangebot für viele Personen. Gesetzliche Ausnahmen gibt es aber nur für Einzelfallkinder“, erläutert die Pressesprecherin.
Die Johannes-Vatter-Schule, der Wetteraukreis und der LWV verhandelten aktuell über eine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung. Sobald die stehe, könne der Kreis Offenbach die Situation neu bewerten.
Darauf richten sich jetzt alle Hoffnungen der Familie Karamitsos. Sie würde gerne drei- bis viermal im Jahr in Friedberg die Wechselgruppe besuchen. Und das möglichst schnell. „Unser Kind braucht die Frühförderung jetzt – und nicht erst in ein paar Monaten oder einem halben Jahr“, appellieren Jennifer und Georgios Karamitsos. „Wenn die Wechselgruppe geschlossen wird, bedeutet das in der Frühförderung hörgeschädigter Kinder einen Rückschritt von 50 Jahren.“Die Eltern tragen ein schweres Schicksal, das sie vor 19 Monaten wie ein Faustschlag aus allen Träumen riss. „Bis zwei Tage vor dem Entbindungstermin war das eine Bilderbuchschwangerschaft. Dann kamen nur noch schockierende Nachrichten“, beschreibt die junge Mutter die damals dramatische Entwicklung. Bis heute ist es ihr ein Rätsel, wie es passieren konnte, dass ihr Kind im Mutterleib an Zytomegalie erkranken konnte.
Das Herpesvirus zerstörte das kleine Leben fast. 14 Tage war Alexandros in der Uniklinik Frankfurt dem Tod näher als dem Leben. Dem aufgeweckten Kind geht es heute gut. Trotzdem sind viele Arztbesuche nötig. 70 waren es im vergangenen Jahr. Vor allem ist Alexandros auf beiden Ohren taub. Er trägt ein Hörimplantat mit Klangprozessor, der den Schall zum Empfänger überträgt.
Man bemerkt danach einen Entwicklungsschub
Jennifer Karamitsos zu den Qualitäten der Wechselgruppe
Warum ist die Wechselgruppe für die Familie so wichtig. „Dass die Logopädin uns hilft, ist wunderbar. Aber in der Wechselgruppe geht es um Alltagssituationen und Alltagsprobleme. Der Austausch mit anderen Eltern und die gegenseitige Hilfe sind durch nichts zu ersetzen. Die Therapeuten handeln teils aus eigener Betroffenheit. Lebensnäher geht es nicht“, schildern Jennifer und Georgios Karamitsos ihre Eindrücke aus der Therapie in Friedberg. Sie haben dort erlebt: „Man bemerkt danach einen Entwicklungsschub.“ (Bernhard Perlka)
Infos im Internet
johannes-vatter-schule.de/fruehfoerderung/wechselgruppe/
