Intoleranz lebt bis heute

Vergangenheit, so heißt es, reiche stets bis ins Jetzt. Dass und warum diese schlichte Formel, von Bürgermeister Jürgen Hoffmann am Samstag auf der Gedenkstätte in Rollwald zitiert, besonders für verfolgte Homosexuelle gilt, wurde bei der Gedenkfeier für NS-Opfer im einstigen Straflager klar. Keine andere Opfergruppe nämlich litt so lange nach dem Ende der Nazi-Gewaltherrschaft noch unter staatlich verordneter Ausgrenzung.
Rollwald – Und noch immer, betonte Pascal Schilling, Pfarrer der freireligiösen Gemeinde in Offenbach und Gast der verschobenen Rodgauer Veranstaltung zum Holocaust-Gedenktag, sei der Ungeist institutionalisierter Intoleranz nicht gebannt. Erst im Jahr 2020, so Schilling in seinem flammenden Schlussplädoyer, habe der Vatikan gleichgeschlechtliche Beziehungen verurteilt, die „nicht in Gottes Plan für Ehe und Familie“ passten. Im US-Bundesstaat Florida verbiete ein Gesetz, mit Kindern über Homosexualität zu sprechen. Und in Offenbach, wo seine Gemeinde seit Jahrzehnten schwule und lesbische Paare traue, löse ein Begegnungszentrum für homosexuelle Jugendliche Gegenreaktionen aus.
Ablehnung und Diskriminierung von Menschen, die sich selbst manchmal als „queer“ (Englisch für „komisch“ oder andersartig) bezeichnen, klang auch im musikalischen Beitrag von Sängerin Svenja Asmus und Gitarrist David Kraft mit Liedern von Luna, Reinhard Mey und Sarah Connor nach. Nicht in allen Kulturepochen war das so. In der griechischen und römischen Antike sei Homosexualität akzeptiert, vielfach auch bildlich dargestellt worden, erläuterte Dr. Rudolf Ostermann, dessen Verein für multinationale Verständigung (Munavero) mit der Stadt Rodgau als Veranstalter der Gedenkfeier auftrat.
Als „gotteslästerlich“ sei die gleichgeschlechtliche Liebe im Alten Testament bei Juden und Christen gebrandmarkt, im 16. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich mit der Todesstrafe bedroht gewesen, so Ostermann. Einer Liberalisierung im Zuge der Aufklärung habe die Adaption preußischen Rechts ab 1871 ein Ende gesetzt. In den 1920er Jahren im Untergrund geduldet, seien Homosexuelle von den Nazis drakonisch verfolgt, nach dem verschärften Strafrechtsparagrafen 175 abgeurteilt und von 1940 an in Konzentrationslagern ermordet worden.
Lagerdaten
Das Lager Rollwald wurde 1938 als Strafgefangenenlager eingerichtet und bestand bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945. Es bestand aus 15 Holzbaracken, in denen jeweils 100 Männer untergebracht waren. Dazu gehörten mehr als 20 Außenstellen in Mittel- und Südhessen sowie Rheinland-Pfalz.
Zu den Inhaftierten zählten neben Straftätern und politischen Gefangenen auch Homosexuelle, Wohnsitzlose und Kriegsgefangene. Die Gefangenen mussten hart arbeiten, unter anderem bei der Begradigung der Rodau. Im Stammlager und den Außenlagern starben etwa 300 Menschen.
Auch dem „Plan“ der Nationalsozialisten für eine homogene, „aufgerasste“ Volksgemeinschaft hätten diese Menschen im Weg gestanden, erläuterte der Munavero-Vorsitzende. Als Träger einer „Seuche“ eingestuft, seien sie isoliert und später, auf Weisung Himmlers, vernichtet worden.
Im Lager Rollwald und den Straflagern Dieburg und Eich litten nach Recherchen des Geschichtsforschers Rainer Hoffschildt 634 – nach anderen Quellen 740 – homosexuelle Männer. 180 landeten im KZ, wurden für Menschenversuche missbraucht oder „zu Tode gearbeitet“.
Mit dem Ende des NS-Regimes dauerte die Diskriminierung fort. Erst 1969 hob der Bundestag die verschärfte NS-Version des Paragrafen 175 auf, bis zur gänzlichen Abschaffung 1994 blieb Homosexualität in Deutschland verboten. 2002 schließlich hob das Parlament die Nazi-Urteile auf – viel zu spät für die Mehrzahl der Opfer, findet Ostermann, namentlich für deren Entschädigung.
Zumindest in Rodgau steht diese Opfergruppe nun gleichgewichtig neben den vielen anderen, denen die Veranstaltungen auf der Rollwald-Gedenkstätte in den vergangenen Jahren jeweils am 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz, gewidmet waren. Dass die Pandemie eine Verschiebung erzwang, entwertet die Feier keineswegs: Am 26. März vor 77 Jahren war das Lager Rollwald von amerikanischen Truppen befreit worden. (zrk)
