Versöhnungsgedanke gewachsen

Das Schicksal der Vertreibung aus ehemals deutschen Gebieten hat viele Familien nach dem Zweiten Weltkrieg ereilt. Viele von ihnen sind längst wieder in der Region heimisch geworden. Und doch halten manche die Erinnerung an den Ort ihrer Herkunft lebendig. Zum Beispiel in Rodgau.
Dudenhofen - Sigrun Kraus in Dudenhofen organisiert einmal im Jahr ein Treffen des Teams Böhmerwald. Vor Corona kamen oft an die 20 Personen zu Besuch. Mit ihrem Cousin Hermann Differenz hat Sigrun Kraus schon mehrfach die alte Heimat des Vaters in Tschechien, das sogenannte Deutsch-Reichenau besucht.
Noch vor zehn Jahren fanden sich für den Ausflug über die tschechische Grenze sogar noch so viele Interessenten zusammen, dass ein Bus gemietet werden musste. Inzwischen fährt die Gruppe mit Privatautos.
In Viehwaggons wurden ihre Väter im Februar 1946 aus dem Land geschickt. Die jungen Männer landeten zunächst im Odenwald. Die Heimatvertriebenen wurden in der Gegend rund um den Zielort verteilt. Schließlich fanden die Männer in Rodgau nicht nur eine neue Heimat, sondern auch ihre späteren Ehefrauen und damit ein neues Glück: die Familie Differenz in Jügesheim, Sigrun Kraus Vater in Dudenhofen.
Dudenhofen war seit Einführung der Reformation um 1550 ein fast ausschließlich evangelischer Ort und stellte damit eine konfessionelle Insel inmitten des sonst katholischen Rodgaus dar. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs kam es durch die Aufnahme überwiegend katholischer Heimatvertriebener aus den deutschen Ostgebieten zu einer deutlichen Zunahme der Katholikenanzahl in Dudenhofen, die um 1950 bei etwa 400 lag.
Dies führte dazu, dass an Weihnachten 1949 erstmals wieder die heilige Messe in Dudenhofen durch den Nieder-Röder Pfarrer Schwarz in der evangelischen Kirche zelebriert wurde. Weil die katholische Gemeinde damals noch nicht über ein eigenes Gebäude verfügte, wurden an jedem zweiten Sonntag Gottesdienste in der evangelischen Kirche gefeiert.
Am 30. Januar 1952 wurde von Dudenhöfer Katholiken der „Kirchbauverein Dudenhofen“ gegründet. Am 8. August 1954 konnte die neue Kirche durch Bischof Gratian Grimm eingeweiht werden. Die Kosten für das Gebäude konnten vor allem dank Spenden der Dudenhöfer Katholiken gedeckt werden.
„In den 60er-Jahren sind die Ersten in die alte Heimat gefahren“, erinnert sich Sigrun Kraus. Doch das sei damals noch ausgesprochen kompliziert gewesen und vor allem seien sich beide Seiten – Vertriebene wie Tschechen – mit viel Misstrauen, Wut und Enttäuschung begegnet. Einige Leute aus der Verwandtschaft hätten gesagt: Dort steht ja gar nichts mehr, da fahre ich nicht mehr hin.
Doch der wirtschaftlich arme, aber landschaftlich extrem reizvolle Landstrich hat es insbesondere Hermann Differenz angetan. Der Pfarrer aus Klein-Auheim hat sogar im Nachnamen einen Beleg für die tschechische Herkunft: Aus Deberenz wurde wegen eines Schreibfehlers schließlich Differenz.
Was einst aus Neugier auf die Herkunft der Väter begann, ist längst zur Aufgabe geworden, einen Teil deutscher Vergangenheit am Leben zu erhalten. Vor allem viele bewegende Begegnungen mit den Tschechen sind es, die Sigrun Kraus und ihren Vetter emotional berühren. „Der Versöhnungsgedanke ist uns sehr wichtig geworden“, sagt der Pfarrer.
Deswegen freuen sich auch alle über die Chronik, die erst kürzlich erschienen ist. Der tschechische Autor Josef Šupler berichtet über die frühere Pfarrgemeinde bei Gratzen: Es dürfe einfach nicht vergessen sein, dass die Deutschen über 700 Jahre dort gelebt und den Ort geprägt hätten, schreibt er. (Simone Weil)