Rödermark: 30 000 Blicke ins Menschen-Innere

Darmspiegelungen in der Arztpraxis statt im Krankenhaus? Das war vor 30 Jahren kaum vorstellbar. Der Internist Dr. Stephan Orlemann ging im Herbst 1991 einen ungewöhnlichen Schritt. Heute kommen Endoskopie-Patienten selbst aus 80 Kilometern nach Rödermark/Ober-Roden.
Rödermark – 30 Jahre war’s am Mittwoch her, dass Dr. Stephan Orlemann in die Praxis von Dr. Hans-Jürgen Biggeleben einstieg. An diesem 3. November 1991 wurde sozusagen der Grundstein für eine Internistische Gemeinschaftspraxis gelegt, die inzwischen Patienten betreut, die aus 80 Kilometern Entfernung ins Ärztehaus im Breidert kommen.
„Als die Praxis gegründet wurde, war es ja ein absolutes Novum, dass endoskopische Untersuchungen und eine echte fachärztliche Diagnostik und Therapie im ambulanten Rahmen stattfanden“, sagt Orlemann. Der 62-jährige Mediziner ist – unter anderem – Spezialist für die Behandlung chronischer Darmerkrankungen. Sein Vorgänger im ersten Stock des Ärztehauses war eher der klassische Hausarzt, der pro Woche zwei oder drei Darmspiegelungen, fachlich korrekt: Endoskopien, durchführte. Schon das war eine Besonderheit: Selbst kleine Krankenhäuser nahmen damals noch keine Endoskopien vor.
Die Internistische Gemeinschaftspraxis schickt dagegen jeden Tag bis zu 30 kamerabewehrte Sonden ins Innere des menschlichen Verdauungstraktes. „Ich habe an die 30 000 Endoskopien vorgenommen“, zieht Dr. Stephan Orlemann eine Bilanz seines Berufslebens.
Außer ihm arbeiten zwei Ärztinnen und ein Arzt in der Gemeinschaftspraxis: Dr. Verena Dienstbach, Dr. Carmen Löhr und Alexander Loydvet. Ein Auszug aus dem Portfolio, der keinen Anstieg auf Vollständigkeit erhebt: Gastroskopien (Magenspiegelungen), proktologische (Krankheiten des End- und Mastdarms) Diagnostik und Therapie, EKGs, Herzultraschall sowie Gefäß- und Bauchultraschall. Für die Chemotherapie von Krebspatienten und Immuntherapien stehen getrennte Räume bereit.
Orlemanns Praxis war die erste in Hessen, die die Zulassung für ambulante Kapselendoskopien erhielt. Bei dieser Untersuchung schluckt der Patient eine knapp daumennagelgroße Kamera, die innerhalb von 24 Stunden durch Magen und Darm wandert. Sie liefert Bilder in HD-Qualität, auf denen die Ärzte winzigste Unregelmäßigkeiten vor allem in schwer erreichbaren Dünndarm erkennen können. Diese Untersuchung steht aber nur alle paar Wochen auf dem Behandlungsplan, einer der Kunden ist das Kettler-Krankenhaus in Offenbach. Orlemann: „Am Ende landet eine mehrere hundert Euro teure Kamera in der Toilette.“
Sein Team ist insgesamt 14 Frauen und Männer stark, Vollzeitkräfte ebenso wie Teilzeitkräfte. Auch (Intensiv)-Krankenschwestern gehören dazu. Dr. Stephan Orlemann könnte noch drei Leute zusätzlich gebrauchen. Aber die findet er nicht. Könnte Telemedizin Entlastung bringen? Der Internist sieht Videosprechstunden mit zwiespältigen Gefühlen. Die Besprechung von Blutuntersuchungen oder EKGs kann er sich durchaus vorstellen. Aber das funktioniert schon lange am Telefon.
Eine Diagnostik am Bildschirm lehnt er ab: „Wenn ich einen Patienten im Wartezimmer abhole, sehe ich schon auf dem Weg ins Behandlungszimmer, wie krank er ist.“
Zu schaffen macht ihm die Bürokratie. Eine Darmspiegelung dauert etwa eine halbe Stunde. Genausolange braucht die Praxis für Dokumentation, Abfragen der Patientenwertung wie den Blutdruck, den Brief an den Hausarzt und, und, und...
Dieses Ärgernis teilt Dr. Stephan Orlemann wahrscheinlich mit den meisten seiner Kollegen. Persönlich geht ihm nah, wenn er zwischen wirtschaftlichen Zwängen und medizinischer Notwendigkeit hin und her gerissen ist. Vor ein paar Tagen, habe ein Patient mit akuter Blutarmut nach einem Termin in der Gemeinschaftspraxis gefragt, schildert er ein Beispiel. Der Computer spuckte ein Datum Ende November aus: „Da fragt man sich natürlich, wo drücke ich diesen Mann rein?“ In diesem Fall konnte er dem Patienten schnell helfen. Immer schafft das aber auch der engagierteste Arzt nicht. (Michael Löw)