Vierte Corona-Welle nicht überstanden: Internist mit eindringlicher Warnung

Die vierte Corona-Welle ist noch nicht überstanden. Ein Arzt aus Rödermark (Kreis Offenbach) warnt jetzt vor Impfverdruss.
Rödermark - Die vierte Corona-Welle schwappt – zumindest bislang – nicht mit der befürchteten Wucht über Deutschland. Die Infektionszahlen gehen seit fast zwei Wochen zurück. Der Internist Dr. Stephan Orlemann aus Rödermark, Leiter des regionalen Ärzte-Qualitätszirkels, warnt. Sorgen bereiten ihm querdenkende Medizinerkollegen und die rapide sinkende Impfbereitschaft gegen Corona. Im Interview lobt er, wenn auch verhalten, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und das Robert-Koch-Institut (RKI).
Herr Dr. Orlemann, vor knapp zehn Monaten hatten wir erstmals über die Pandemie gesprochen. Wissen Sie noch, wie viele Bundesbürger sich damals infiziert hatten oder an Covid-19 gestorben sind?
Ende 2020 waren es 1,8 Millionen Infizierte und circa 33 .000 Tote.
Corona: Mediziner aus Rödermark (Kreis Offenbach) über Ursachen hinter den hohen Fallzahlen
Schockt Sie diese exorbitante Steigerung auf nunmehr vier Millionen Infizierte und mehr als 93.000 Tote? Oder ist diese Entwicklung am Ende für Mediziner keine große Überraschung?
Es ist keine Überraschung, bereits in früheren Pandemien hatten die zweiten und dritten Wellen mehr Opfer gefordert als die erste Welle.
Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Ursachen? Sind die querdenkenden Mediziner-Kollegen schuld, gegen die Sie sehr deutlich Position bezogen haben? War der jüngste Lockdown nicht streng genug? Hätte die Impfkampagne früher starten müssen? Gibt es weitere Gründe, an die Laien zunächst nicht denken?
Insgesamt gibt es eine gewisse Gewöhnung an die Pandemie und eine Müdigkeit, die notwendigen Maßnahmen einzuhalten, insbesondere durch Urlaubsrückkehrer, keine ausreichende Rückverfolgung durch die Gesundheitsämter, Ignoranz gegen Quarantäne-Anordnung wegen fehlender Kontrolle...
Klingt so, als wären Sie noch nicht fertig.
Natürlich haben auch die neuen Medien mit den daraus resultierenden Blasenbildung eine gewisse Bedeutung. Immer mehr Menschen beziehen ihre Information nur noch über Facebook, Youtube und ähnliches. Durch die entsprechenden Algorithmen bekommen die Menschen dann nur die Infos, die ihre eigene Meinung oder Zweifel bestätigen. Und damit stoßen sie auch auf die genannten medizinischen Querdenker. Jemand, der zweifelt, erhält durch die Algorithmen immer nur Infos, die die Zweifel bestätigen. Und wenn dann sogar ein Mediziner Zweifel sät, zählt das um so mehr.
Corona-Pandemie: Kritik an Impfkampagne von Arzt aus Rödermark (Kreis Offenbach)
Ab Januar rannten die Deutschen – so sie denn einen Termin und ein Vakzin bekamen – in die großen Impfzentren. Die niedergelassenen Ärzte kamen erst im Frühjahr dazu. Spielen Sie doch bitte für unsere Leser einmal Lehrer und geben diesem Verfahren eine Note. Was hätten Sie dem RKI oder Bundesgesundheitsminister Jens Spahn als Begründung geschrieben?
Sie werden sich wahrscheinlich wundern, ich würde eine 3+ geben. In den ersten Monaten war ja der Impfstoffmangel der limitierende Faktor. Dieser war auch durch einen weltweiten Verteilungskampf bedingt, die EU hat wenig bezahlt und dann auch relativ wenig bekommen. Man darf bei aller Kritik an einzelnen Maßnahmen jedoch nicht vergessen, welch riesige und komplexe Aufgabe es war, einen großen Teil der Bevölkerung zu impfen. Der Patient merkt nur die fünf Minuten der Impfung; er weiß aber nichts von dem ungeheuren logistischen Aufwand vor und nach der Impfung. Allein für mich und meine Mitarbeiter am Ende der Kette bedeutet es pro Patient mit Planung, Einbestellung und Aufklärung einen Aufwand von mindestens 20 Minuten pro Patient.
Was ist schlecht gelaufen?
Die Fehler sind eigentlich hauptsächlich vor der Pandemie gemacht worden. Es gab Studien im Auftrag der Bundesregierung zu den Folgen einer zu erwartenden Pandemie. In diesen Studien sind die Probleme wie das Fehlen von Schutzkleidung, Masken, Desinfektionsmitteln oder bestimmten Medikamenten erschreckend genau aufgezeigt worden. Genau dies ist eingetreten, da keinerlei Konsequenzen aus den Studien gezogen wurde.
Müssen wir Journalisten uns da an die eigene Nase fassen?
Kritik muss ich auch an der Überbewertung von den extrem seltenen Impfnebenwirkung in den Medien üben. Und das bei einer Erkrankung, die bisher allein in Deutschland rund 93 300 Menschleben gefordert hat und noch sehr viele Menschen mehr auf Dauer krank gemacht hat. Gerade das Thema Astra Zeneca hat uns unendlich viel Aufklärungsarbeit gekostet. Ganz viele Patienten haben dennoch auf die Impfung verzichtet und sich damit erheblich mehr gefährdet. Ein weiteres Problem sehe ich in der Berichterstattung über Impfdurchbrüche. Wenn bei einem Geimpften ein Antigen- oder PCR-Test positiv ist, heißt das nicht, das er krank ist, sondern dass er trotz Viruskontakt wegen der Impfung gesund bleibt. Dies wird nicht richtig kommuniziert.
Corona-Impfung in Rödermark (Kreis Offenbach): Arzt spricht über Erfahrungen
Hätten Sie in Ihrer Praxis gerne früher geimpft?
Eindeutig ja. Ich konnte nicht verstehen, dass zunächst nur die Hausärzte impfen durften, wir aber, die Hochrisikopatienten – zum Beispiel Tumorpatienten unter Chemotherapie oder immunsupprimierte Patienten – behandeln, nicht. Sehr viele Patienten sind auch sehr viel lieber zu Ihren Ärzten des Vertrauens statt in ein anonymes Impfzentrum gegangen.
Den normalen Praxisbetrieb hat das nicht gestört?
Im Gegenteil, es war wirklich hart. Wir haben bei normalen Arbeitsalltag pro Woche und Arzt ungefähr zehn Stunden in unserer Freizeit geimpft, dies gilt auch für unsere Mitarbeiter. Auf Dauer ist diese Belastung nicht machbar. Man muss aber auch sagen, dass wir sehr viel Dankbarkeit von den Patienten erfahren haben.
Wie kriegt die Impfkampagne – egal wo - neuen Schwung?
Eine sehr gute Frage, die ich nicht beantworten kann, da ich nicht verstehe, wie man sich nicht impfen lassen kann, obwohl man die Möglichkeit hat. Es ist schon traurig und unsolidarisch denen gegenüber, die nicht geimpft werden können, dass circa ein Drittel der Bevölkerung das Privileg, geimpft werden zu dürfen, nicht oder nur mit Belohnung oder mit mehr oder weniger Druck nutzt.
Nun gibt’s leider immer noch Menschen, die glauben: Auch ohne Impfung wird mir schon nichts oder nichts Schlimmes passieren.
Ein Teil davon wird sicher in Zukunft eines Besseren belehrt und mit langfristigen gesundheitlichen Schaden oder sogar Schlimmerem bezahlen. Die Deltavariante wird die Ungeimpften erreichen. (Die Fragen stellte Michael Löw)
Gesunde junge Menschen stecken eine Infektion leicht weg – denken viele. Aber Michel Simon-Gerl aus Rödermark (Kreis Offenbach) musste spüren, wie ihn ein „mittelschwerer“ Corona-Verlauf aus der Bahn warf.