Rödermark: Abschied vom klassischen Stromnetz

Allein mit stärkeren Hochspannungsleitungen und mehr Umspannwerken ist die Energiewende nicht zu schaffen. Stromverbraucher müssen gleichzeitig auch Stromerzeuger sein. Wie das Netz von morgen funktionieren könnte, zeigt ein Hightech-Labor in der Carl-Benz-Straße in Rödermark-Urberach.
Rödermark – Das Labor „Smart Grid LAB Hessen“ in einer Halle der Ingenieurbüros Matthias Pfeffer erforscht unter Leitung der Hochschule Darmstadt verschiedenste Szenarien des Stromversorgungssystems der Zukunft. Getestet wird ein Paradigmenwechsel in der Energiepolitik: Strom wird nicht länger zentral in großen Kraftwerken oder Windparks produziert und über weite Strecken transportiert, sondern überwiegend dort erzeugt, wo er auch verbraucht wird.
Das „Smart Grid LAB“ zeigt, wie die „Straße der Zukunft“ in einem Wohnviertel aussieht. Die einzelnen Gebäude sind „Prosumer“ – also Kunden, die zeitweise Elektrizität erzeugen und zeitweise welche verbrauchen. Ihre Daten werden im intelligenten Netz des Labors gemessen, ausgewertet und zur Steuerung der Energieströme eingesetzt. Für das Labor hat Pfeffer eine neue Halle mit Hochleistungs-Solarzellen, großvolumigen Speicherbatterien und acht Ladestationen für Elektroautos gebaut. Rund zwei Millionen Euro hat das Urberacher Unternehmen investiert. Die Landesregierung unterstützt das Projekt nach Auskunft von Wirtschaftsstaatssekretär Jens Deutschendorf mit 1,5 Millionen Euro.
Der Experimentierraum ist für seine geistigen Väter das Modell einer dynamischen, effizienten und sicheren Energie-Infrastruktur. Die Untersuchungen liefern Antworten für die Einführung des „Smart Grid“, des intelligenten Stromnetzes: Wie kann die Versorgung gesichert werden, wenn an Tagen mit geringer Stromerzeugung viele Elektrofahrzeuge laden sollen? Was passiert, wenn immer mehr Öl- und Gasheizungen durch strombetriebene Wärmepumpen ersetzt werden? Wie verhindert man einen Netzzusammenbruch, wenn Speicher ausfallen? Wie kann verhindert werden, dass Hacker die Daten manipulieren und einen Blackout verursachen?
Das Urberacher Labor überwacht, was im regional begrenzten Netz passiert, und der Strom wird gemäß Angebot und Nachfrage verteilt. Um den ständig wachsenden Bedarf an elektrischer Energie intelligent und bei minimalem Netzausbau sicher zu beherrschen, ist ein Umdenken nötig: Weg von großen, statischen Netzen, hin zu dezentralen, dynamisch betriebene Netzen, die aus den eigenen Daten die richtigen Schlüsse ziehen – also von sich selbst lernen.
Denn nach Ansicht von Professor Peter Birkner aus der Denkfabrik House of Energy ist der bislang übliche Netzausbau viel zu teuer und kommt ohnehin nicht voran. Seine Prognose: „Wir werden schnell doppelt so viel Strom brauchen wie bisher.“
Der – vermutete – Anschlag auf die Nord Stream Gaspipelines in der Ostsee am Montag zeigt, wie angreifbar die westeuropäische Energieversorgung ist. Beim „Smart Grid LAB“ arbeiten auch Spezialisten in Sachen IT-Sicherheit mit. Das soll Risiken im Fall eines Cyberangriffs nicht nur reduzieren, sondern auch wirksam einschränken. Doch selbst eine solche Attacke – Professor Ingo Jeromin von der Hochschule Darmstadt nennt das „herausfordende Netzsituationen – können simuliert werden.
Staatssekretär Jens Deutschendorf wies gestern auf die hohe Bedeutung des „Smart Grid LABs“ für Hessen hin und lobte den „Experimentierraum“ für die Energieversorgung der Zukunft: „Solche Projekte mit Pioniercharakter sorgen dafür, dass die Energiewende technisch funktioniert und abgesichert ist.“ Die intelligenten Stromnetze erhöhen den Anteil an erneuerbaren Energiequellen und helfen bei der Dekarbonisierung (dem Verzicht auf Brennstoffe, die CO2 freisetzen) des Energiesektors.
Erste aussagekräftige Ergebnisse sollen in einem Jahr vorliegen. (Michael Löw)
