Michel Friedman Gast beim Holocaust-Gedenken an der NBS: „Der Hass hat Hunger!“
Der Philosoph und Politiker Michel Friedman spricht an der Nell-Breuning-Schule in Rödermark über die deutsche Erinnerungskultur und die Herausforderungen der Demokratie.
Rödermark - Für einen Moment verschlug‘s sogar einem eloquenten Philosophen und Politiker wie Michel Friedman die Sprache. „Sie haben gerade gesagt, dass der Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Demokratie ist. Warum sind sie dann noch in der CDU?“, fragte ein junger Mann provokant den Gastredner des Holocaust-Gedenktages, zu dem Nell-Breuning-Schule (NBS) und Stadt Rödermark gestern in die Pausenhalle eingeladen hatten.
Aber lange blieb der 66-Jährige die Antwort nicht schuldig: Partei-Engagement ist für ihn immer eine Sache der Abwägung. 1983 trat er wegen des NATO-Doppelbeschlusses (amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland aufstellen und aus einer Position der Stärke heraus mit der Sowjetunion über Abrüstung verhandeln) in die CDU ein. „Ich bin sicherlich eines der kritischsten Mitglieder“, sagte und verwies auf den Deutschland Besuch des US-Präsidenten 1985: „Ich war mit 2 000 Demonstranten in Bitburg, als Reagan und Kohl sich vor Nazi-Gräbern verbeugten.“

NBS-Geschichtslehrer Andreas Zies hatte den hochkarätigen Gast nach Ober-Roden geholt. Denn Friedman ist nicht nur Jurist, Philosoph, Politiker und Talkmaster, sondern auch Jude und in vielen jüdischen Verbänden in Führungspositionen aktiv. Einen besseren Redner für den Gedenktag hätte es kaum geben können, die rund 300 Zuhörer verloren kein unnötiges Wort.
Michel Friedman an der NBS in Rödermark: Schuld sind die Millionen, die nichts getan haben
1956 in Paris geboren, kennt Friedman den Holocaust nur aus den Erzählungen seiner Eltern. Die überlebten das Getto in Krakau, weil der Industrielle Oskar Schindler sie auf die Liste jener knapp 1 100 Juden setzte, die er unbedingt für seinen Rüstungsbetrieb brauchte. Mutter und Vater entkamen Hitlers Vernichtungsmaschinerie, fast alle anderen Verwandten wurden ermordet. Die Eltern lebten nach dem Krieg in Frankreich und siedelten 1965 nach Deutschland über. Sie pflegten den Kontakt zu ihrem Retter Oskar Schindler, der lange in ihrem Haus ein und aus ging.
Der Holocaust war kein Werk „von ein paar Verbrechern und Sadisten“, räumte Michel Friedman eine der liebsten deutschen Ausreden aus dem Weg. Schuld seien die Millionen, die nichts getan haben.
Die Frage „Was kann man den als Einzelner tun?“ ist in Friedmans Augen nur eine billige Entschuldigung fürs Nichtstun. Denn der Hass nimmt scheinbaren Randgruppen das Menschsein und ist in Kombination mit massenhaftem Wegschauen der Anfang einer grausamen Entwicklung.
„Wann haben Sie auf dem Schulhof zuletzt ,du schwule Sau" oder ,Kanake" gehört“, sprach Friedman die jungen Leute direkt an. Ausgrenzung sei die Vorstufe zum Hass. Der Jude Friedman fühlt mit muslimischen Mädchen: Er wisse, wie es ist, gedisst zu werden, wenn man ein Kopftuch trägt. Für alle unter 35: Dissen bedeutet, jemanden voller Verachtung schlechtmachen. Der 66-Jährige benutzte gekonnt die Sprache seines Publikums, ohne sich ihm anzubiedern.
Friedman hielt gestern ein eindringliches Plädoyer gegen Vorurteile, die jeden angreifbar machen. Und bekannte, selbst schon welche herausposaunt zu haben. In einer Diskussionsrunde habe er vor Jahren die doppelte Staatsbürgerschaft „auch für Drittweltländler“ gefordert. Als ihn ein solcher „Drittweltländler“ ansprach, sei er aus Scham am liebsten im Boden versunken. Sein Appell: nicht einfach daherreden.
Friedmann über Björn Höcke: „Der hätte bei Ihnen Geschichte unterrichten können.“
Bei den Schülerfragen ging"s um mehr als Friedmans CDU-Mitgliedschaft. „Sind Rassismus und Antisemitismus nicht typisch für Ungebildete?“, wollte einer der Zuhörer wissen. „Das ist eines der ältesten Klischees“, entgegnete Friedman. Auch Intellektuelle und das Großbürgertum haben Hitler gewählt. Und heute tue die AfD nur so, als sei sie eine Partei der kleinen Leute. Der rechtsextreme Vorsitzende der AfD-Landtagsfraktion in Thüringen, Björn Höcke, ist Oberstudienrat: „Der hätte bei Ihnen Geschichte unterrichten können.“

Eine junge Frau wurde sehr persönlich und fragte: Denkt Michel Friedman angesichts von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Hass nicht manchmal ans Aufgeben? Nein, tut er nicht. Obwohl er als jüdischer Schüler in Deutschland noch Lehrer ertragen musste, die bekannten: „Ich habe Hitler geliebt.“ Trotzdem ist er kein Zyniker geworden, sondern ein Mensch voller Hoffnung geblieben. Deutschland sei ein besseres Land als in den Fünfziger-, Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren. Deshalb ist es ihm wichtig, für seine Demokratie einzustehen.
Aber Friedmans Mahnung hinterließ ein betroffenes Publikum: „Der Hass hat immer noch Hunger!“ (Michael Löw)
Die Nell-Breuning-Schule in Rödermark (Kreis Offenbach) gehörte 2020 zu Deutschlands besten Schulen.