Rödemark: Hormonexplosion der Pubertiere

Nachbarstädte fahren die offene Jugendarbeit zurück, weil das Interesse ihrer Jungbürger nachlässt. Im Juz Rödermark-Ober-Roden mussten die Besucher nach dem Lockdown teilweise Schlange stehen, um an die Playstation oder den Billardtisch zu kommen. Jetzt hat sich der Besuch auf einem immer noch hohen Niveau normalisiert.
Rödermark – Wer wissen will, wie junge Rödermärker ticken, sollte nachmittags eine Stunde Mäuschen im Jugendzentrum Ober-Roden spielen. Da dolmetscht ein 15-jähriger Russlanddeutscher für deutlich jüngere Ukrainer, da kochen elf- oder zwölfjährige Ober-Röder Mädchen mit fast volljährigen Flüchtlingsjungs, da geht ein Hochbegabter, der zwei Schuljahre übersprungen hat, ebenso ein und aus wie pseudocoole Beinahe-Männer, die allen Ernstes meinen: „Ich schmeiß meinen Dreck einfach auf die Straße, weil jemand bezahlt wird, der den Dreck wegmacht. Der hat ja sonst keinen Job mehr.“
Stephanie Grabs, die Leiterin der Fachabteilung Jugend, kennt die Juz-Besucher in allen Facetten. Im Schnitt kommen mehr als 30, wenn das ehemalige Feuerwehrhaus werktags von 15 bis 20 Uhr offen ist. Im Juni und Juli waren"s doppelt so viele. Selbst Fachfrau Grabs kann sich den Boom nicht so recht erklären: „Die Corona-Beschränkungen fielen Ende Mai. Dann gab"s eine Hormonexplosion der Pubertiere.“ Nach zwei Jahren Kontaktbeschränkungen und Homeschooling hatten 12- bis 15-Jährige ein extremes Bedürfnis, zusammen zu sein.
Eine Altersgruppe kam nach Corona allerdings nicht zurück. Nämlich die, die vor der Pandemie 15 und älter waren. Die sind jetzt meist in der Ausbildung.
Das Auswahl im Juz ist groß. Spielekonsolen wie die Playstation 5 oder Nintendo Switch haben eine geradezu magische Anziehungskraft. Doch selbst Klassiker vom Kaliber Tischtennis, Tischkicker oder Billard stehen immer noch hoch im Kurs. Nischenangebote wie die Koch AG fielen in den Boommonaten aus, weil die Küche zu klein war.
Der kleine Salon mit Sesseln und Sofas ist mal mehr, mal weniger voll. „Einfach mal nichts zu tun, müssen die Kids erst einmal als Angebot begreifen“, wirbt Stephanie Grabs für den Anti-Stress-Raum.
Klassisches Bildungsprogramm hat bei den Juz-Besuchern keine Chance. Und Stephanie Grabs, Jens Müller und ihr Team stehen hinter ihnen: „Das ist nicht unsere Aufgabe.“ Eltern wünschen sich immer wieder Nachhilfe in Schulfächern, die Juz-Betreuer setzen dagegen auf informelle und soziale Bildung.
Vor allem Jungs testen nämlich ihre Grenzen. Laut dürfen sie sein, Hausregeln müssen sie einhalten. Damit tun sich manche schwer. Wenn einer den Controller der Playstation zum fünften Mal gegen die Wand knallt, gilt: „Schockschwerenot – Juz-Verbot!“ Da können die Hormone noch so verrückt spielen...
Ganz grantelig werden Grabs, Müller & Co., wenn die Pubertierenden draußen ihre Grenzen überschreiten. Zwei krasse Beispiele: Zwölfjährige zogen vor den Frohsinn-Sängerinnen, die in Graf-Reinard-Saal probten, die Hosen runter. Und ein paar Möchtegern-Stadtguerillas tobten mit Wasserpistolen und Sturmhauben durch den Biergarten der Kulturhalle. Was ihrem Kleinhirn entgeht: Solche Auswüchse bestärken all diejenigen, die stets behaupten: Ins Juz gehen nur die, die sonst nirgendwo Anschluss finden.
Ist aber falsch, kontert Stephanie Grabs. Viele Kinder oder Jugendliche sind entgegen landläufiger Meinung in Vereinen aktiv: „Wenn der KSV seine Trainingszeiten ändert, kostet uns das an manchen Tagen Kundschaft.“
Wie wichtig das Juz ist, zeigt das Beispiel eines ukrainischen Jungen. Der nutzt das WLAN, um bei seinem Lehrer, der trotz Krieg geblieben ist, Unterrichtsstoff nachzuholen.
Henry Baum ist jener eingangs erwähnte Russlanddeutsche, der Ansprechpartner für Flüchtlinge aus der Ukraine ist. Dass im Juz so viele Kulturkreise aufeinandertreffen und – in der Regel – miteinander klarkommen, ist für ihn und seinen Klassenkameraden Marcel Hitzel eine ganz normale Sache.
In der offenen Jugendarbeit beschäftigt die Stadt vier Vollzeit- und zwei Halbzeit- sowie drei Honorarkräfte – meist Studenten aus pädagogischen Fächern. Eine Schicht im Juz übernehmen Jens Müller, eine Vollzeit- und eine Honorarkraft. (Michael Löw)

