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Rödermark: Kandidaten-Kampf in der Provinz

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Von: Michael Löw

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Am 9. August 1961 fuhr Willy Brandt (SPD), damals Regierender Bürgermeister von Berlin, während des Bundestagswahlkampfes am Telenorma-Werk in Urberach vor.
Rödermark: Am 9. August 1961 fuhr Willy Brandt (SPD), damals Regierender Bürgermeister von Berlin, während des Bundestagswahlkampfes am Telenorma-Werk in Urberach vor. © Archiv Heimat- und Geschichtsverein Rödermark

In knapp sieben Wochen ist Bundestagswahl. Doch von Wahlkampf ist in Rödermark noch nichts zu spüren, und Spitzenpolitiker werden sich wahrscheinlich auch nicht sehen lassen. Das war in den Sechzigerjahren anders. Seinerzeit gingen die Kanzlerkandidaten hier noch auf Tuchfühlung mit dem Volk.

Rödermark – Sechzig Jahre ist’s her, dass mehrere hundert Urberacher für Willy Brandt auf die Straße gingen. Der Regierende Bürgermeister von Berlin und Hoffnungsträger der SPD kämpfte am 9. August 1961 vorm Telenorma-Werk um Stimmen. Brandt wollte Dauerkanzler Konrad-Adenauer beerben.

Heute kaum mehr vorstellbar, aber in früheren Jahrzehnten gang und gäbe: Spitzenpolitiker machten vom offenen Pkw aus Wahlkampf. Sicher nicht zufällig stoppte Brandts Auto vor den Werkstoren, damit er mit den Arbeitern sprechen konnte. Die wählten seinerzeit noch geschlossen die SPD, da gab’s nichts zu deuteln.

Bürgermeister Adam Spamer hatte die rote und schwarze Orwischer an den Straßenrand gerufen. Sie sollten nicht unbedingt den SPD-Kanzlerkandidaten bejubeln, sondern ihre Solidarität mit der in vier Sektoren geteilten Stadt bekunden. Nur wenige Tage nach Brandts Urberach-Besuch bauten ostdeutsche Maurer bewacht von Roter und Nationaler Volksarmee die Berliner Mauer. Brandt nahm der CDU wenige Wochen später die absolute Mehrheit ab. Kanzler wurde er jedoch nicht.

Soweit die Fakten. Doch Willy Brandt ist der erste und bislang einzige (Kanzler-)Kandidat, dem ein Rödermärker Autor ein Kapitel gewidmet hat. Oliver Nedelmann ließ ihn in „Mer pagge des“ mitspielen und Durst bekommen. Das Buch und ein gleichnamiges Theaterstück beleuchten 100 Jahre Ortsgeschichte zwischen 1919 und 2019.

„Irgendetwas mit Alkohol“, soll Willy Brandt vor der Weiterfahrt Richtung Eppertshausen verlangt haben. Oliver Nedelmann lässt eine heimische Genossin ein Glas Sauergespritzten reichen. Der Gast nimmt nur einen Schluck, spuckt den gleich wieder aus und grummelt: „Die armen Äpfel!“

Ludwig Erhard dagegen hat es nicht in die lokale Literatur geschafft, obwohl er am 13. August 1965 in Begleitung des CDU-Bundestagskandidaten Walter Picard und der unvermeidbaren Zigarre durch Ober-Roden rollte. Jede Menge CDU-Fähnchen wurden geschwenkt, der Vater des deutschen Wirtschaftswunders wurde im Oktober zum Bundeskanzler gewählt. Sein Gegner war übrigens Willy Brandt, der sein politisches Lebensziel erst 1969 erreichen sollte. (Michael Löw)

Vier Jahre später, am 13. August 1965, kämpft der Vater des Wirtschaftswunders Ludwig Erhard (CDU) in Ober-Roden um Stimmen: Er will Bundeskanzler werden und wird es auch.
Rödermark: Vier Jahre später, am 13. August 1965, kämpft der Vater des Wirtschaftswunders Ludwig Erhard (CDU) in Ober-Roden um Stimmen: Er will Bundeskanzler werden und wird es auch. © Archiv Heimat- und Geschichtsverein Rödermark

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