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Rödermark: Klassenziel „Seepferdchen“

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Von: Michael Löw

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Mit dem Kopf voran durch den Reifen: Lehrerin Christina Landmann gleicht einer Raubtierdompteurin, wenn sie mit den Fortgeschrittenen der Trinkbornschule das wettkampfgerechte Springen trainiert.
Mit dem Kopf voran durch den Reifen: Lehrerin Christina Landmann gleicht einer Raubtierdompteurin, wenn sie mit den Fortgeschrittenen der Trinkbornschule das wettkampfgerechte Springen trainiert. © Michael Löw

Wegen Corona und Energiekrise können immer weniger Kinder schwimmen. In Rödermark sieht"s zum Glück anders aus: Das Schulschwimmen stand nie zur Disposition. Nach der vierten Klasse tummeln sich fast alle Kinder sicher im Wasser – theoretisch.

Rödermark – Gegensätzlicher könnte das Bild kaum sein: Im großen Becken des Badehauses demonstriert ein Mädchen den perfekten Kraulstil – sogar auf dem Rücken. Ihr Klassenkamerad prustet sich wasserschluckend durchs Nichtschwimmerbecken und gibt nach ein paar Zügen auf.

Ute Vogt, die Präsidentin der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft (DLRG), hatte Ende Januar wieder einmal Alarm geschlagen: Der Anteil der Nichtschwimmer unter Grundschulkindern habe sich einer Studie zufolge seit 2017 verdoppelt. Rund 20 Prozent der Kinder zwischen sechs und zehn Jahren konnten 2022 nicht schwimmen, zeigte eine Forsa-Umfrage im Auftrag der DLRG. 2017 lag der Anteil der Nichtschwimmer im Grundschulalter bei zehn Prozent. Weitere 23 Prozent der Kinder sind nach Angaben ihrer Eltern unsichere Schwimmer. Nur 57 Prozent schwimmen demnach sicher, das sind in etwa so viele wie vor fünf Jahren.

„Jedes Kind, das in Rödermark die Grundschule verlässt, kann schwimmen“, sagen dagegen schon seit 1967 alle Rödermärker Bürgermeister. Damals baute die Gemeinde Urberach das erste Hallenbad im Kreis Dieburg. 2005/2006 peppte es die Stadt Rödermark für 5,5 Millionen Euro zum Badehaus mit Sauna und Wellnesszone auf. Das Defizit, das in schlimmsten Zeiten bei 1,3 Millionen Euro lag und vor Corona auf 740 000 Euro geschrumpft war, löste viele Spardiskussionen aus. Aber das Schulschwimmen stand allen Zwängen zum Trotz nie ernsthaft zur Debatte.

Die Viertklässler der Trinkbornschule werden jeden Mittwoch ins Badehaus gefahren. Raus aus dem Bus, rein in die Umkleide, ab in die Schwimmhalle, zurück zu den Klamotten und wieder rein in den Bus: Der Aufwand, den die Kinder und ihre Lehrerinnen betreiben, ist enorm. Von einer Stunde bleiben 35, vielleicht 40 Minuten Zeit im Wasser. Sportkoordinatorin Jutta Groha sagt dennoch: „Wir haben hier gute Voraussetzungen. Es gibt nicht viele Städte im Kreis, die ihren Schulen so viel Wasserzeit lassen.“ Und während die Kommunalen Betriebe Rödermark das ganze Schwimmbad für die Schulen freihalten, reservieren andere Kommunen höchstens eine Bahn für die Kinder.

Die Trinkbornschule startete im Herbst mit 13 Nichtschwimmern in zwei Klassen. Grenzwertig, meint Lehrerin Groha. Manche Kinder hatten bis dahin noch nie ein Schwimmbad von innen gesehen. Und weil in der Corona-Pandemie auch das Badehaus geschlossen war, haben Viertklässler Angst, obwohl sie mit sechs oder sieben Jahren die „Seepferdchen“-Prüfung bestanden haben. Aber die Zeit ohne Schwimmbad war einfach zu lang.

Mancher Grund fürs Nicht-schwimmen-Können hinterlässt Fassungslosigkeit: Wochenlang brauchten die Trinkborn-Lehrerinnen, um einem Flüchtlingskind die Furcht von dem flachen Urberacher Becken zu nehmen: Die Familie hatte die Flucht übers Mittelmeer in einem überfüllten Boot gerade so überlebt, Wasser bedeutete Todesangst.

Alles in allem bleibt zum Glück nur eine kleine Zahl von Ober-Röder Kindern, die die Grundschule verlassen, ohne schwimmen zu können. Deren Eltern rät Jutta Groha dringend, weitere Schwimmstunden zu nehmen. Denn Jugendzeit ist schon seit Generationen Schwimmbadzeit. Und dann kann"s lebensgefährlich sein, nicht schwimmen zu können.

Die Urberacher Schule an den Linden geht an mehreren Tagen mit ihren Dritt- und Viertklässlern ins Badehaus. Auch die Urberacher Kinder müssen mit 35 bis 40 Minuten Wasserzeit auskommen. Das kann in Einzelfällen problematisch werden, bedauert Schulsportleiter Marco Eder: Fürs silberne Jugendabzeichen müssen die Prüflinge zum Beispiel 25 Minuten am Stück schwimmen.

Die Zahl der Nichtschwimmer ist wegen Corona deutlich größer geworden, stimmt Eder seiner Ober-Röder Kollegin zu. Viele Familien haben überhaupt kein Interesse, ihre Freizeit im Schwimmbad zu verbringen. Und muslimische Eltern fragen schon mal entsetzt: „Was, da sind Jungen und Mädchen zusammen?“

„Wir sind in Rödermark top“, lobt Eder die Stadt. Höchstens fünf bis zehn Kinder verlassen die Schule an den Linden ohne das „Seepferdchen“. Der Schwimmwettbewerb der Grundschulen im Kreis beweist seiner Ansicht nach den Erfolg des Rödermärker Modells. Auf den Plätzen eins und zwei wechseln sich Trinkborn- und Lindenschule ab. Dritter wird regelmäßig die Strothoff International School aus Dreieich. Die hat sogar ein eigenes Bad.

Bürgermeister Jörg Rotter sieht von Amts wegen auch den finanziellen Aspekt: „Wer ein Schwimmbad beschließt, beschließt ein Defizit.“ Dieses Loch sollen seiner Meinung nach aber nicht die Nachbarstädte stopfen, deren Kinder mangels Ganzjahresbad in Rödermark schwimmen lernen: „Das muss von oben über den Kommunalen Finanzausgleich bezahlt werden.“ (Michael Löw)

Kein Schulunterricht ohne Theorie: Am Beckenrand fragt Lisa Huschens die Kinder ab, bevor sie auf den Sprungturm dürfen.
Kein Schulunterricht ohne Theorie: Am Beckenrand fragt Lisa Huschens die Kinder ab, bevor sie auf den Sprungturm dürfen. © Michael Löw
Motivation ist alles: Sportkoordinatorin Jutta Groha macht auch Anfängern Lust aufs Schwimmen.
Motivation ist alles: Sportkoordinatorin Jutta Groha macht auch Anfängern Lust aufs Schwimmen. © Löw

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