Rödermark: Leeres Symbol des Reichtums?

Türme prägen das Stadtbild. Man sieht sie oft schon Kilometer, bevor man am Ortsschild vorbei fährt. In einer neuen Sommerserie stellen wir einige Rödermärker Hochbauten vor – bekannte und weniger bekannte. Den Anfang macht die Spitze der Trinkbornschule.
Rödermark – Selbst der Hausherr ist ratlos. „Das frage ich mich auch“, beantwortet Rektor Stefan Wesselmann die Frage nach Sinn des Türmchens, das die Trinkbornschule krönt, quasi mit einer Gegenfrage. Es hat weder eine Uhr, die weithin sichtbar die Zeit anzeigt, noch eine Glocke, die die Kinder zum Unterricht ruft.
Die exakte Höhe steht nicht einmal im Bildband „Kulturdenkmäler des Kreises Offenbach“. Der weiß aber immerhin, dass „vielfältige Elemente und heimische Materialien Kleinteiligkeit erzielen“ und dass die verschachtelten Dachflächen mit Bieberschwanzziegeln gedeckt sind und „Dachreiter nach ländlich-traditionellen Vorbildern“ haben.
Sei"s drum, vielleicht bringt ja die Erkundung nähere Erkenntnisse: Wesselmann schließt die Tür zum Raum 01–2.OG auf. Ein muffiger, aber überraschend heller Dachboden ist die erste Station auf dem Weg nach oben. Dort bedecken eine dicke Staubschicht und unzählige Spinnenweben einen Abakus und einen Zirkel im XXL-Format. Das Lehrmaterial aus alten Zeiten stand bis vor wenigen Jahren vorm Sekretariat der Trinkbornschule – Anschauungsobjekte für eine Art Unterricht, die längst Geschichte ist.
Ein Blick in die Geschichte liefert vielleicht auch die Erklärung fürs Türmchen: Die 1886 eingeweihte Schule im Ober-Röder Rathaus war schon nach 14 Jahren zu klein. Der Gemeinderat gab einen Neubau in Auftrag, der 60 000 Reichsmark kostete. Der spitze Aufsatz zeigte den Nachbarn: Ober-Roden kann sich Luxus ohne Funktion leisten!
Das neue Schulhaus hatte sieben Räume, in denen 420 Kinder von der ersten bis zur fünften Klasse unterrichtet wurden. Die 16 Kinder evangelischen und die drei Kinder jüdischen Glaubens wurden in der Statistik extra aufgeführt. Trotz einer Klassenstärke von 60 Kindern wurden weder der Dachstuhl noch das Türmchen genutzt.
Eingeweiht wurde die Schule ohne das übliche Brimborium. Schuld war die Großherzogliche Schulkommission in Dieburg: Die hatte angeordnet, dass Jungen und Mädchen erst ab dem elften Lebensjahr getrennt unterrichtet werden dürfen. Das ärgerte im katholisch-konservativen Ober-Roden nicht nur die Gemeinde- und Kirchenoberen, sondern auch die meisten Eltern. Bei so viel Streit fiel die Einweihungsfeier ins Wasser. Nachgeholt wurde sie nach der ersten Erweiterung 1909/1910. Die war mit 71 000 Reichsmark teurer als der Neubau.
„Da oben könnte man locker mehrere Klassenzimmer unterbringen“, meint Wesselmann mit Blick auf die Raumnot in der größten Schule des Kreises Offenbach. Sein ohnehin ironisch gemeinter Wunsch würde an den Vorschriften des Brandschutzes und der fehlenden Isolierung des Daches scheitern. Aber die fünf Stockwerke, die über unterschiedlich hohe Holzleitern erreichbar sind, wären ein toller Abenteuerspielplatz für kleine Ober-Röder. (Michael Löw)

