Meisterlicher Stratege

Für die Elite der Fernschachspieler ist Rödermark der Nabel der Welt. Olympiasieger, Welt- und Europameister kennen die Adresse Marienstraße 5 in Ober-Roden. Denn dort lebt und arbeitet eine international anerkannte Trainer-Ikone dieser Spezialsportart: Matjaz Pirs.
Ober-Roden – Wer das Büro von Matjaz Pirs betritt, der merkt sofort, dass er es nicht mit irgend einem Schachlehrer zu tun hat, sondern mit einem international renommierten Trainer und Spieler. Zahlreiche Medaillen, Pokale und andere Trophäen füllen einen Glasschrank gleich rechts an der Wand. Auf dem Schreibtisch stehen zwei speziell fürs Fernschach hochgerüstete Computer. An einem davon analysiert der 65-Jährige gerade die Eröffnung einer bestimmten Partie.
In seiner außergewöhnlichen Karriere hat der gebürtige Slowene 238 Fernschachturniere als Spieler gewonnen und als Teamcaptain sieben Gold- und eine Silbermedaille sowie einen vierten Platz geholt. 1990 ehrte ihn ein Kongress in Manila als Fidemeister im Präsenzschach. Zuletzt sicherte er im Mai als Trainer der deutschen Fernschach-Nationalmannschaft den Sieg in der zehnten Europa-Mannschaftsmeisterschaft. Pirs ist Trainer, Schiedsrichter, Turnierorganisator und Teamcaptain in einer Person. Auch das macht ihn so erfolgreich. Denn er kennt seinen Sport aus allen Blickwinkeln.
Die ehrenamtliche Tätigkeit für den Deutschen Fernschachbund als Trainer und Referent für Leistungssport wird der examinierte Jurist und Psychologe am 22. Oktober offiziell beenden. Dann organisiert er seine letzte Veranstaltung: die Ehrung namhafter Schachkollegen und Weggefährten im Kongresshotel Rodgau an der Kopernikusstraße 1. Es werden Sieger der Deutschen Nationalmannschaft im Fernschach, Teilnehmer der Olympiade, der Europameisterschaft, des Baltic-, Nordsee- und Donau-Cups sowie mehrfache Weltpokalsieger ausgezeichnet. Und Matjaz Pirs wird zum Abschied noch gleich dreimal vergoldet.
Geboren wurde der Ausnahme-Denksportler am 6. Mai 1956 in Maribor (Slowenien). Dass man sein Talent am Brett entdeckt hat, ist einem schlimmen Zufall zu verdanken. „Als 19-Jähriger habe ich mich beim Sport an beiden Knien schwer verletzt und konnte meine Spezialdisziplinen 800 und 1500 Meter nicht mehr ausüben. Mein Großvater hat mir zur Ablenkung dann Schach empfohlen“, erinnert sich der Mann, der sein Hobby zum Beruf und Ehrenamt gemacht hat.
Im Jahr 2000 siedelte er nach Deutschland über. Damals hatte er schon viele Turniere und Titel gewonnen. Passau, Dortmund, Leidersbach und Offenbach waren Stationen, bevor 2013 Ober-Roden Wohn- und Firmensitz zugleich wurde.
An der Marienstraße 5 betreibt der Experte als Kleinunternehmer seine Fernschachschule und betreut Kunden aus sieben Ländern der Erde. Er füllt damit eine von ihm entdeckte Marktlücke: „Als ich her kam, habe ich erkannt, dass sich die Trainer um ihre Spieler immer nur am Tisch persönlich kümmern. Fernschachbetreuung übers Internet gab es nicht. Dabei ist auf diese Weise ein viel effektiveres Arbeiten möglich. Lange Anfahrtzeiten und Fahrtkosten fallen weg. Und die Kunden können zu jeder Tages- und Nachtzeit das abrufen, was ich ihnen im Internet zugeschickt habe.“ Der kluge Kopf erweitert bestehende Ausbildungsprogramme mit seinen Analysen und Gedanken, er dreht Ausbildungsvideos, entwickelt und vermittelt spezielle Denk-Techniken und gibt Tipps zur Ausstattung der Schachcomputer. In einem Projekt zusammen mit einem Kollegen aus Italien und einem weiteren aus den Arabischen Emiraten geht es um ein Schachprogramm, das die jedem Spieler eigenen Techniken und intuitiven Herangehensweisen mit den kühlen Rechenmodellen des Computers verknüpft, um bei Eröffnung, Angriff und Verteidigung noch schlagkräftiger zu sein.
Auch wenn Pirs dem Deutschen Fernschachbund nun abhanden kommt, wird er international weiter tätig sein und als stellvertretender Direktor der Europazone im Internationalen Fernschachverband 35 Nationalverbände betreuen. Der 65-Jährige möchte ganz neue Turniere auf den Weg bringen, damit sich die Spielerinnen und Spieler im Wettbewerb messen können. Zum Beispiel bei Europameisterschaften für Senioren. „Die gab es noch nie.“
Von Bernhard Pelka