1. Startseite
  2. Region
  3. Rödermark

Rödermark: Pfarrer verhinderte Schlimmeres

Erstellt:

Von: Michael Löw

Kommentare

Ein Eintrag im Familienstammbuch brachte Stefan Ziegler und seine Tochter Sophie auf die Idee, die Folgen der Spanischen Grippe von 1918 auf ihren Heimatort Ober-Roden herunterzubrechen. Sie fanden manche Parallelen zur Corona-Pandemie gut 100 Jahre später.
Rödermark: Ein Eintrag im Familienstammbuch brachte Stefan Ziegler und seine Tochter Sophie auf die Idee, die Folgen der Spanischen Grippe von 1918 auf ihren Heimatort Ober-Roden herunterzubrechen. Sie fanden manche Parallelen zur Corona-Pandemie gut 100 Jahre später. © Michael Löw

Im Kriegsjahr 1918 sterben 18 der damals knapp 2 700 Ober-Röder Katholiken an Atemwegserkrankungen. So hat’s der Pfarrer in den Kirchenbüchern notiert. Dr. Stefan Ziegler aus Rödermark nimmt an, dass sie der Spanischen Grippe zum Opfer fielen und belegt das in einem Aufsatz für das Archiv der hessischen Geschichte. Mit seiner Tochter Sophie entdeckt er manche Parallele zur Corona-Pandemie.

Rödermark – Was tun ein Biologe, der beruflich mit Zoonosen – also Infektionskrankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden – zu tun hat, und seine medizinisch interessierte Tochter im Lockdown? Dr. Stefan und Sophie Ziegler (16) beschäftigen sich mit einer Seuche, die nach dem Ersten Weltkrieg Millionen dahinraffte, brechen Zahlen auf ihren Heimatort herunter und stoßen auf Sterbequoten, die viel, viel höher als die des zweiten Corona-Jahres sind.

Das Familienstammbuch von Stefan Zieglers Mutter bringt die Sache ins Rollen. Beim 1902 geborenen und 1948 gestorbenen Opa steht unter der Rubrik „Erkrankungen“ (Die gab’s seinerzeit tatsächlich): „1918 Grippe“. In Europa grassierte die hoch ansteckende Spanische Grippe. Ihren Namen verdankt sie der Tatsache, dass sie gegen Ende des Ersten Weltkriegs im neutralen Spanien offiziell registriert wurde. Die kriegführenden Mächte hatten schon längst Nachrichtensperren verhängt: Kein Bericht über Seuchen sollte die Moral der Soldaten oder der Zivilbevölkerung untergraben.

Gefangene oder Urlauber von der Westfront brachten die Krankheit ins Deutsche Reich. Dort starben Ende 1918/Anfang 1919 450 000 Menschen, findet Ziegler im Bundesgesundheitsblatt von 2016 heraus. Weltweit kostete die Seuche zwischen 27 und 50 Millionen Menschen das Leben. Das ist ein Vielfaches der 9,4 Millionen Kriegstoten, die in den Geschichtsbüchern stehen.

Der Verlauf der Grippe lässt sich in den großen Städten über Protokolle der Ärzte oder durch die Todesanzeigen in den Zeitungen gut nachvollziehen. Auf dem Land fehlen solche Dokumentationen. Diese Lücke wollen die Zieglers schließen.

Ihr erster Blick gilt Professor Egon Schallmayers Chronik zur 1 200-Jahr-Feier von Ober-Roden. Dort ist die Seuche mit keinem Wort erwähnt; das Vater-Tochter-Gespann sucht nach weiteren Quellen und wird dank Pfarrer Elmar Jung in den Kirchenbüchern der St. Nazarius-Gemeinde fündig.

Der damalige Pfarrer Michael Zöller hat diese Unterlagen mit äußerster Sorgfalt geführt und die – meiste vermutete – Todesart hinter den Namen der Gestorbenen eingetragen. In einer Rubrik fasste er Grippe, Lungenentzündung und chronische Atemwegserkrankungen zusammen. Dabei besteht ein gewisser Unsicherheitsfaktor, ein Pfarrer ist ja kein Mediziner.

Von der rund 2 700 Ober-Röder Katholiken starben 1914 35. Hinter neun Namen, also gut einem Viertel, notierte der Geistliche sein Kürzel für Atemwegserkrankungen, normal für diese Zeit. Im Pandemiejahr 1918 sterben 41 Ober-Röder. 18 davon (44 Prozent) an Atemwegserkrankungen, die meisten zwischen Oktober und Dezember.

Der Vergleich zum Corona-Jahr 2021 verdeutlicht die Dimension der Spanischen Grippe. Bis einschließlich gestern starben nach Auskunft des Kreisgesundheitsamtes in Rödermark mit seinen fast 30 000 Einwohnern 22 Menschen an Covid 19. Bei aller Dramatik unserer Tage: Verglichen mit der Einwohnerzahl tötete die Spanische Grippe ein Vielfaches an Menschen.

Mindestens so interessant wie die Zahlen sind die Einzelschicksale, die Sophie und Stefan Ziegler herausfinden. Neben der Friedhofskapelle erinnert ein Grabstein an die Brüder Philipp, Adam und Georg Anton Schrod. Sie überlebten die Kämpfe des Ersten Weltkriegs und starben im Oktober 1918 innerhalb einer Woche daheim. Auch hinter ihrem Namen steht das Lungenkrankheit-Kürzel des Pfarrers.

Die Zieglers sind sicher: Der Umsicht Zöllers und der Gemeindeverwaltung war es zu verdanken, dass Ober-Roden vergleichsweise glimpflich durch die Spanische Grippe kam. Die frühzeitige Schließung der Schule und der Verzicht auf Gottesdienste hat das Dorf vor Schlimmerem bewahrt. Heute sagt man dazu Lockdown.

Die Stunden, die Stefan und Sophie Ziegler in ihre Arbeit gesteckt haben, können sie höchstens schätzen: vielleicht 30, vielleicht auch mehr für jeden. Aber die Mühe hat sich gelohnt. Das Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde hat ihre Forschungen in einer Broschüre veröffentlicht. (Michael Löw)

Drei Brüder überlebten die Schützengräben und starben innerhalb weniger Wochen an einer Atemwegserkrankung.
Friedhof Rödermark/Ober-Roden: Drei Brüder überlebten die Schützengräben und starben innerhalb weniger Wochen an einer Atemwegserkrankung. © Michael Löw
Die Spanische Grippe kostete um die Jahreswende 1918/19 – je nach Schätzung – zwischen 27 und 50 Millionen Menschen das Leben. Trotzdem wird so oft nur als Randerscheinung des Ersten Weltkriegs betrachtet. Unser historisches Bild zeigt Soldaten, die in Europa kämpften und in einem Notfallkrankenhaus der Militärbasis Fort Riley in Kansas (USA) behandelt werden.
Die Spanische Grippe kostete um die Jahreswende 1918/19 – je nach Schätzung – zwischen 27 und 50 Millionen Menschen das Leben. Trotzdem wird so oft nur als Randerscheinung des Ersten Weltkriegs betrachtet. Unser historisches Bild zeigt Soldaten, die in Europa kämpften und in einem Notfallkrankenhaus der Militärbasis Fort Riley in Kansas (USA) behandelt werden. © National Museum of Health and Medicine/dpa

Auch interessant

Kommentare