Rödermark: Vorgezogene Weihnachtsbescherung

Vor 75 Jahren hat Gerlinde Wehner aus Rödermark einen Jungen aus den Augen verloren, neben dem sie in einem Flüchtlingszug gekauert hatte. Der Bericht unserer Zeitung über eine diamantene Hochzeit in Hanau führte sie wieder zusammen. Für die beiden – längst glücklich verheirateten – Aussiedlerkinder war die Begegnung eine vorgezogene Weihnachtsbescherung.
Rödermark – Für weihnachtliche Glücksgefühle braucht es weder einen geschmückten Baum noch Schneeflocken. Zu Gerlinde und Manfred Wehner kam das Christkind schon im Oktober. Seinen Besuch haben sie ein gutes Stück unserer Zeitung zu verdanken, deshalb bekamen wir kurz vorm Fest Post aus Ober-Roden. „Wir konnten uns am 9. Oktober nach 75 Jahren treffen“, schrieb Gerlinde Wehner voller Freude.
Wer ist „Wir“? In erster Linie Werner Klieber aus Hanau, außerdem seine Frau Tilli. Sie hatten im Sommer diamantene Hochzeit gefeiert. Gerlinde Wehner las den Bericht in der Offenbach-Post und rief an: „Als Heimatvertriebene saßen wir 1946 im selben Zug!“ Werner Klieber war so perplex, dass er nicht nach dem Namen und der Telefonnummer fragte. Dank der Zeitung gab"s ein spätes, aber umso herzlicheres Wiedersehen bei den Wehners im Breidert.
Gerlinde Wehner betreibt seit 32 Jahren Ahnenforschung und beschäftigt sich deshalb mit der Geschichte des Sudetenlandes, aus dem ihre Familie nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurde. Vor einigen Jahren ließ sie sich aus Prag die „Vertreibungslisten“ des Zuges schicken, der am 19. März 1946 von Marienbad nach Burghaun im Kreis Fulda aufbrach. Jeder dieser Züge transportierte in 40 Wagen 1 200 Menschen nach Bayern, Hessen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Werner Klieber, damals neun, saß neben der kleinen Gerlinde, ihrer Mutter, der Oma, einer Tante und einem Cousin.
Die Kinder erlebten die fünftägige Fahrt als eine Art Abenteuer und konnten so den Verlust der Heimat trotz aller Probleme leichter ertragen. „Wir saßen auf gestapelten Gepäckstücken und durften durch das kleine Gitter im Viehwaggon nach draußen schauen“, erzählt Gerlinde Wehner.
Die Erwachsenen waren voller Kummer und Sorgen. Und sie schämten sich, weil sie ihre Notdurft vor aller Augen in einem Eimer verrichten mussten. Der Krieg hatte ihnen ihre Heimat genommen, in der sie durch Fleiß und Verzicht über Jahrzehnte hinweg eine Existenz geschaffen hatten. Gerlinde Wehners Oma war damals 66, und die Enkelin möchte auch nach 75 Jahren immer noch nicht wissen, was die alte Frau damals gedacht hatte. Zwei Jahre später starb sie an Kummer.
Am Bahnhof Burghaun wurden die Sudetendeutschen in die umliegenden Ortschaften des Kiebitzgrundes verteilt. Deren Bürgermeister mussten sich bereit erklären, eine bestimmte Zahl an Vertriebenen aufzunehmen. Die Leute hatten ihre eigenen Probleme, die Häuser waren zu klein, um zusätzlichen Bewohnern Unterkunft zu bieten. „Wir haben sehr unterschiedliche Erfahrungen mit der einheimischen Bevölkerung und auch den neuen Mitbürgern gemacht“, blickt Gerlinde Wehner zurück. Den Neunjährigen aus dem Zug verlor sie aus den Augen.
1996 war Werner Klieber Mitautor von zwei Büchern über den Kiebitzgrund. Er schildert, wie die Sudetendeutschen ihre Heimatorte verlassen mussten, in ein Lager am Flugplatz von Marienfeld gebracht und dort in die Züge verteilt wurden. Außerdem listete er auf, in welche fünf Orte des Kiebitzgrundes die Leute verteilt wurden. Viele zogen aber bei nächstbester Gelegenheit aus der armen Gegend weg, um ihr Geld anderswo zu verdienen.
Seine Nachforschungen kamen ins Stocken, bis Gerlinde Wehner den Bericht über die diamantene Hochzeit des Ehepaars Klieber las und Kontakt aufnahm. Er war sehr dankbar, die „Vertreibungslisten“ unter die Lupe nehmen zu können.
Und dankbar sind Gerlinde Wehner und Werner Klieber dass sie sich nach 75 Jahren wieder getroffen haben, den jeweiligen Partner kennenlernen durften und sich auf Anhieb verstanden zu haben. (Michael Löw)