Ein Stück Tradition verschwindet

Waldacker - Nächsten Montag schließt in Waldacker ein letztes Stück Tradition aus der Gründungszeit des Ortsteils seine Pforten: Wolfgang Weyrich, früherer Chef des Spar-Marktes und anschließend der Postfiliale, fertigt das letzte Päckchen ab und verkauft die letzten Briefmarken. Von Christine Ziesecke
Die Zukunft der Post ist offen. Seit 1961 ist der Name „Weyrich“ in Waldacker und darüber hinaus eine feste Größe. „Ich geh zum Weyrich“ hieß es immer dann, wenn jemand in dem kleinen Ortsteil etwas einkaufen musste. Im Spar-Markt bei den Geschwistern Elisabeth und Wolfgang Weyrich gab es lange Jahre fast alles – wie in einem modernen Tante-Emma-Laden. In Darmstadt hat er erst als Bäcker gearbeitet und dann seinen Meister gemacht, abends dann half er im Laden. Den Eltern gehörte die Bäckerei Pauer in Ober-Roden, und der neue Laden in Waldacker sollte eine Bäckereifiliale mit kleinem Lebensmittelmarkt werden.
Schon zwei Jahre vor ihrer Heirat kam auch Gerda Weyrich an jedem Wochenende aus dem Odenwald nach Waldacker, um im Markt mitzuhelfen: „Als ich das erste Mal 1961 hierher kam, gab es noch keine Straßen, alles war nur Feld. Doch die neue Siedlung wurde rasch immer größer und wir hatten immer mehr Kunden und auch immer mehr Anfragen nach einem erweiterten Angebot.“
Anfangs hat die junge Frau jeden Morgen von montags bis samstags auch noch Brötchen und Milch ausgefahren. Das erste Kind nahm sie noch jedes Mal mit, den zweiten Sohn ließ sie mit einer Flasche zuhause im Bett – geschadet hat es wohl nicht, denn ihre zwei Söhne sind inzwischen 54 und 46 Jahre, haben lange mit im Haus gewohnt und viel mitgeholfen.
„Dreimal haben wir groß umgebaut und eigentlich jedes Jahr an irgend einer Ecke zusätzlich…“, erinnert sich Wolfgang Weyrich. Zum größten Umbau kam es, als die Familie beschloss, die Räume des Spar-Marktes an die Firma Schlecker zu verpachten und sich auf die kleine Postfiliale mit Reinigungsannahme, Schuhmacherei- und Schlüsseldienst, mit Zeitungen und mit einem Verkauf von Köhlerschen Backwaren zurückzuziehen.
Die Postbank war zunächst eine Herausforderung und brachte viel Lernen mit sich. „Wir hatten – toi, toi, toi – keinen einzigen Überfall. In den letzten Jahren ist nur einmal größer eingebrochen worden, während des Umbaus zu Schlecker, dann aber gleich mit zehn Ganoven, und das in der einzigen Nacht, in der wir die Alarmanlage nicht eingeschaltet hatten.“ Bei kleineren Gaunereien wurden höchstens Zigaretten mitgenommen.
Am Montag ist nun der letzte Tag – wie es weitergeht, ist auch bei der Postdirektion noch unklar. Eine Nachfolge ist noch nicht gefunden. Gerda Weyrich (76) hätte sich schon viel früher einen Ausstieg vorstellen können, doch er (75) würde heute noch weitermachen, wenn es seine Gesundheit nicht verbieten würde. „Doch jetzt muss es sein, zumal die vier Wochen vor Weihnachten hier immer extrem anstrengend sind.“
Wohl jeder versteht, dass sich Wolfgang und Gerda Weyrich, die beide mehrmals in der Woche im Krankenhaus und bei Ärzten unterwegs sind, zurückziehen und die eigene Gesundheit etwas ernster nehmen. Doch in der Mitte der 50er Jahre gegründeten Siedlung Waldacker geht am 1. November ein Stück Tradition verloren. Für Brötchen und für Zeitungen gibt’s mit einem Backshop und mit der Tankstelle einen Ersatz, doch die Postfiliale, die auch im Vorbeifahren von Menschen aus ganz Rödermark genutzt wurde, wird fehlen – und freilich die neuesten Nachrichten aus dem Ort, die es dort immer kostenlos gab.