Kabarettist Sven Garrecht über den „waschechten Seligenstädter“

Kabarettist Sven Garrecht schreibt ab sofort eine Kolumne für die Offenbach Post. Darin geht der Seligenstädter dem Alltag in der Einhardstadt auf die Spur.
Seligenstadt – „Du bist doch ein waschechter Seligenstädter“, hat man mir neulich gesagt. Bin ich das?, habe ich mich gefragt. Würden Sie von sich behaupten, waschechte Seligenstädter zu sein? Ich meine, was ist das überhaupt? Waschecht im Sinne von, man kriegt auch mit Kernseife nicht den Kleinstadt-Geruch von mir abgeschrubbt? Will ich das überhaupt sein? Und wer oder was entscheidet, ob man diesen vermeintlichen Ehrentitel tragen darf? Gibt es da eine Liste mit To-Dos, die man abarbeiten muss? Oder ein paar Grundvoraussetzungen? Muss ich hier geboren sein?
Dazu kann ich sagen, sollte ich jemals Karriere als Countrysänger machen, könnte ich guten Gewissens singen: „I was born and raised in Seligenstadt.“ Zugegeben, klänge ähnlich stilecht wie das Rammstein-Cover von Heino, aber stimmen würde es. Und laut meines Stammbaums sollte ich auch lieber nicht in Erwägung ziehen, mit Frauen, die nicht von weither zugezogen sind, Kinder zu zeugen, wenn genetisch mehr als ein Pantoffeltierchen herauskommen soll. Aber ist es das schon?
Kolumnist Sven Garrecht: Mit Seligenstädter Fastnacht nichts am Hut
Ich möchte es bezweifeln. Zumal ein früher Vorfahre im Pulverturm eingesperrt wurde, weil er zwei seiner drei Frauen erschlagen hat. Im Schnitt sind mir das zu viele. Deshalb würde ich liebend gern diesen Zweig meines Stammbaums kappen, der mich hier am tiefsten verwurzelt. Dann wären wir wieder bei der To-Do-Liste. Von 100 Menschen aus Seligenstadt würden vermutlich 200 irgendwas mit Fastnacht und Brauchtum ganz oben auf die Liste setzen.
Als ich neulich beim Bäcker erzählt habe, dass ich über Rosenmontag immer in Urlaub fahre, schien die Dame ihrem Gesichtsausdruck nach verstanden zu haben, dass ich in meiner Freizeit gerne kleine Kinder vom Rad schubse und älteren Menschen im Bus den Platz klaue. „Ich bediene dich trotzdem“, war ihre Antwort. Schön, dass es noch Profis gibt.
Seligenstädter Kolumnist: „Brauchtumspflege nicht meine Königsdisziplin“
Na gut, aber wie siehts aus mit Brauchtumspflege? Ist wichtig, ist schön und ist absolut nichts für mich im aktiven Sinne. Zu schätzen weiß ich das natürlich. Wenn dieses Jahr wieder Geleitsfest ist, gelten Dank und Respekt allen, die sagen: „Knapp 40 Grad im Schatten? Da zieh ich doch mal eine historische Perücke auf und laufe zwei Stunden hinter einem Pferd her.“ Großartig, dass es solche Leute gibt! Ich könnte das nicht.
Betrifft auch die Löffeltrinker. Wobei ich mir sage, wenn ich Menschen sehen will, die sich mittags in der Öffentlichkeit einen Liter Wein hinter die Binde kippen, lass ich mich doch einfach mal wieder zum Ausgeben der Kelchkommunion einteilen. Also Brauchtumspflege – ebenfalls nicht meine Königsdisziplin.
Sven Garrecht: Seligenstadt gleichermaßen traditionsbewusst und weltoffen
Bin ich trotz alledem ein waschechter Seligenstädter? Mit der festen Überzeugung, dass diese Stadt noch so viel mehr zu bieten hat als ein Faible für Perückenumzüge, seien sie bunt, historisch oder beides, sage ich ja! Ich glaube nicht, dass uns die Stadt zu dem macht, der wir sind. Ich denke, es ist umgekehrt.
Wenn Sie von sich sagen: „Ich bin ein waschechter Seligenstädter, weil ich nur hochdeutsch spreche“, dann ist das so. Wenn Sie von sich sagen: „Ich bin eine waschechte Seligenstädterin, weil mich Witze über Froschhausen anöden“, dann willkommen im Club. Und wenn wir sagen: „Wir alle sind waschechte Seligenstädter, weil wir unser Zuhause zu einem Ort machen, der Brauchtum pflegt und bereit ist für Neues, der offen ist für Menschen aller Couleur, der ein Zuhause werden kann für alle, die sich nirgendwo zugehörig fühlen, der uns so sein lässt, wie wir sein wollen“, dann können wir das mit Stolz sagen.
Nicht falsch verstehen, ich bin kein Fan von Heimatstolz. Wie könnte ich stolz darauf sein, dass mir irgendjemand mal ein paar Fachwerkhäuser in die Nachbarschaft gezimmert hat, wenn ich selbst nicht mal einen Nagel gerade in die Wand schlagen kann? Stolz sein kann man nur auf etwas, das man geleistet hat, hat mir meine Mama mal erklärt. Unser Seligenstadt zu einem Ort zu machen, der gleichermaßen traditionsbewusst und weltoffen ist… das ist echt eine Leistung. Also wie sieht’s aus? Wie waschecht sind Sie? (Von Sven Garrecht)
Sven Garrecht wird OP-Kolumnist
Seit führende Politiker eine Kapriole nach der anderen schlagen, fühlt sich sogar mancher Kabarettist überflüssig. Dieser Meinung sind wir ganz und gar nicht, es braucht das Kabarett, es braucht gesellschaftskritische, aber auch komisch-unterhaltende Ansätze. Mit Sven Garrecht haben wir einen preisgekrönten Liedermacher und Kabarettisten im Städtchen. Ein Mensch, sprachgewandt und mit ganz eigenen Ansichten. Kostproben gibt er künftig regelmäßig. Er wird sich allerdings nicht der großen Politik widmen, sondern unserem Alltag, in dem es so viel zu entdecken gibt. (Von Michael Hofmann)