Risse im 400 Jahre alten, bedeutenden Kunstwerk

Der Reiz der Einhardstadt Seligenstadt beruht auf einer großen Vergangenheit mit Basilika und Klosteranlage, Staufer-Palatium und organisch gewachsenem Fachwerkensemble aus Mittelalter, Renaissance und Barock. Inmitten der Fülle denkmalgeschützter Gebäude spielt das 1596 erbaute, pittoreske Patrizierhaus am Markt eine wichtige Rolle mit dem legendären Schriftband „Selig sei die Stadt genannt, da ich meine Tochter wieder fand“. Kaiser Karl der Große soll das ausgerufen haben, so kam es der Sage nach zum Namen „Seligenstadt“. Zu Ehren Einhards, des Klostergründers und Beraters Karls, nennt man es „Einhardhaus“. Im Inneren besitzt es eine Stuckdecke des bedeutenden Babenhausener Meisters Eberhard Fischer von 1615.
Seligenstadt – Im schönen Erkerzimmer im ersten Stock breitet sich das Kunstwerk bis in den Erker hinein aus mit herrlichen biblischen, mythologischen und naturfrohen Szenen, die man selten findet aus dieser Zeit vor dem verheerenden 30-jährigen Krieg. Wunderschön gerahmt mit pflanzlichem Dekor, Tier- und erotisch-allegorischen Frauenfiguren erzählt es auch grausame Geschichten in beeindruckenden Medaillons.
Zum Beispiel die biblische Szene im Feldlager der Stadt Bethania, als Israel-Retterin Judith aus dem Feldherrnzelt tritt, in der Rechten das Schwert, in der Linken das abgeschlagene Haupt des assyrischen Besatzers Holofernes, bevor sie es in einen von ihrer Magd aufgehaltenen Sack wirft. Im Kissenlager des Zeltes sieht man nur noch den Rumpf des verhassten Feldherrn, dessen Blut aus dem durchschlagenen Hals strömt…
Die Hauptfigur im Mittelfeld der Erkerdecke, ein Ritter zu Pferd mit gezogenem Schwert über einem Flammenstrudel, ist nicht leicht zu identifizieren. Es könnte der legendäre Römer Marcus Curtius sein beim Sprung in den Opfertod. Selbst ein großartiger Kenner der Mythologien wie Altphilologe Wolfram Becher kommt hier zu keinem klaren Schluss. Er hat die Seligenstädter Decke mit der des Rittersaals im Johann- Casimir-Bau von Burg Breuberg verglichen und findet viele Parallelen. Er ist sich sicher, dass die Decke des Einhardhauses Fischer auch als Vorlage für Burg Breuberg gedient hat und vermutet, dass der kunstsinnige Stifter Graf Johann Casimir von Erbach die Seligenstädter Decke nicht nur gekannt, sondern gar gestiftet hat.
Kunsthistorische Forschung hat hier einiges zu tun. Fakt ist, dass Kunstforscher Georg Schäfer 1891 zum Stuck des Einhardhauses von einer technisch wie künstlerisch hervorragenden Arbeit geschrieben hat. Diese scheint heute vielen genauso unbekannt zu sein wie das Leben und Wirken des Meisters Eberhard Fischer.
Was man in den heutigen Büroräumen des Heimatbundes im historischen Bau sieht, spricht für sich: Ein fast quadratischer Raum mit quadratischem Erker bietet ein Spektakel figurativer Stuckkunst des sogenannten „Manierismus“ im Übergang von der Renaissance zum Barock. Qualitätsvoll wirken nicht nur die mythologischen und biblischen Szenen, auch die ornamentalen Blumen, Früchte und Beschlagmuster wirken stimmungsvoll, dazu verbreiten sechs Bildfelder aus Tierfabeln derben Volkshumor. So sieht man in den Außenfeldern ein Weib - wohl die Hetäre Phyllis - rücklings auf einem Mann sitzend, um ihn per Nudelbrett den nackten Hintern zu versohlen. Daneben rasiert eine weitere Unbekleidete einem Fuchs den Schwanz ab. Dazu kommen die berühmten drei Hasen im Dreipass. Vieles kennt man auch vom großen Rittersaal der Burg Breuberg, auch die Damen mit Füllhörnern, Wasserkrügen und Früchten. Der „Breuberg-Bund“ hat sich deshalb auch mit dem Bildkonzept des Seligenstädter Salons befasst: Die entschlossene Heldin Judith sei eine weibliche Courage sowie Sinnbild für Mut und Tapferkeit - wie auf der Burg. Die männliche Reiterfigur zu Curtius sei ihr Pendant als Ritter gegen Tod und Teufel. Die drei Hasen als Fruchtbarkeitssymbol sowie Tierszenen und Spottbilder seien kontrastierende Beigabe, um - im Sinne des gebildeten Grafen - das Hohe vom Niedrigen zu unterscheiden. Dass die vier Eckfiguren des Curtius-Medaillons für die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer stehen, lässt sich erkennen. Was aber bedeutet die beigegebene Schlange?
Derlei offene Fragen beunruhigen Brauchtumspfleger Wilhelm Eiles vom Heimatbund weniger. Er liebt diese Räumlichkeiten, auch wegen Fischers Stuckdecke. Deshalb ist er beunruhigt über einige Risse, die sich deutlich sichtbar im 400 Jahre alten Kunstwerk zeigen. Er möchte dazu eine klare Haltung der Stadtverwaltung hören, die - seiner Meinung nach - diese Räume des Einhardhauses lieber für sich haben möchte. Letztlich geht es aber um die Rettung eines einzigartigen Raumkunstwerks für die Nachwelt. Da sollte man sich im Interesse der Sache einigen und schleunigst Experten zu Rate ziehen. (REINHOLD GRIES)
