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Gedenkveranstaltung zur Deportation der Seligenstädter Juden

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Stolpersteine erinnern an das schreckliche Schicksal der Familie Oestreich.
Stolpersteine erinnern an das schreckliche Schicksal der Familie Oestreich. © Gruß, Lucy

80. Jahrestag der Deportation: „Wie Tiere aus der Stadt entfernt“

„ Ruth Oestreich, geboren 1932, könnte in diesem Jahr ihren 90. Geburtstag feiern“, sagte ein Vertreter der Seligenstädter Bürgerinitiative (BI) Synagogenplatz auf dem Marktplatz. 80 Jahre ist es her, dass die kleine Ruth zusammen mit 43 anderen Juden die Stadt verlassen musste. Zum Jahrestag der Deportation der letzten Seligenstädter und Hainstädter Juden organisierte die BI jetzt eine Gedenkveranstaltung. Antisemitismus, also die feindselige Haltung gegenüber Juden, war ein zentrales Motiv der NS-Ideologie. Daraus resultierte der systematische Massenmord an Juden, eingeleitet durch Deportationen und perfide wie gnadenlos vollendet in Vernichtungs- oder Arbeitslagern.

Seligenstadt - Die damals zehnjährige Ruth Oestreich musste am 17. September 1942 ihr Zuhause in der Schafgasse 4 zusammen mit ihren zehn Mitbewohnern verlassen. Dieses Schicksal erlitten auch die übrigen Juden Seligenstadts, die auf drei weitere Häuser der Stadt aufgeteilt waren. Mitnehmen durften die Juden an diesem Tag nur ein Gepäckstück. „Was würden Sie einpacken, wenn Sie nur einen Koffer mitnehmen dürften und sofort aufbrechen müssten?“ Mit dieser Frage regte Christian Mohrig, Mitglied der Schüler-AG der Einhardschule, die sich mit dem jüdischen Leben in Seligenstadt befasst und die Gedenkveranstaltung mit Redebeiträgen unterstützte, zum Nachdenken an.

Bei einem Schweigemarsch von den ehemals von Juden bewohnten Häusern bis zum Marktplatz trug jeder Teilnehmer einen Koffer. Kurt Ferdinand Oestreich, 19 Jahre; Herta Lilie, 23 Jahre; Helene Marx 73 Jahre - nur drei Namen auf den Koffern. Die Namen aller 44 deportierten Seligenstädter Juden verlas die Bürgerinitiative bei der anschließenden Gedenkveranstaltung.

Gedenkfeier-Organisatorin Hildegard Haas betonte in ihrer Ansprache, dass all diese Menschen in erster Linie Freunde, Nachbarn und gut integrierte Mitmenschen gewesen seien. „Nur, weil sie Juden waren“, sei es ihnen unmöglich gemacht worden, ein normales Leben zu führen: Vom Boykott jüdischer Geschäfte bis hin zum Tragen des Judensterns in der Öffentlichkeit und einer dramatisch schlechten Lebensmittelversorgung mussten Juden in Deutschland menschenunwürdige Leiden ertragen.

Die Schüler-AG der Einhardschule hatte sich vorab über die Schicksale einzelner jüdischer Familien informiert und diese bei der Veranstaltung vorgetragen, was den Zuhörern die Grausamkeit des nationalsozialistischen Regimes noch bewusster werden ließ.

Jüdische Kinder hätten in ihrem kurzen Leben nur Verbote gekannt, betont Christian Mohrig. Sara Schloß, eine gute Näherin und Stickerin, habe von ihrer Nachbarin heimlich mit Lebensmitteln versorgt werden müssen, berichtete Schülerin Lena Zawada.

Andere Familien, die ähnliche Unterstützung anboten, hätten dies mit ihrem Leben bezahlt, erzählte eine andere Schülerin, Katharina Nüßlein, die das Schicksal einer weiteren jüdischen Familie beleuchtet. Sie erzählt von der Mutter Löb, die von ihrem Sohn sogar ein Visum organisiert bekommen hatte, um Deutschland zu verlassen, dieses aber nicht genutzt habe. „Vermutlich, weil sie gar nicht damit rechnete, ermordet zu werden.“

Der damalige Befehl lautete aber, „die Juden loszuwerden“ und die Städte „judenfrei“ werden zu lassen, wie es die Bürgerinitiative aus einem Brief aus Kassel zitiert. Entsprechend wurden die restlichen Seligenstädter Juden „wie Tiere aus der Stadt entfernt“. Mit dieser Aussage übertrieb Hildegard Haas in ihrer Ansprache nicht. Tatsächlich hatte man die Juden vor 80 Jahren auf einen Viehwagen gescheucht und von dort aus nach Darmstadt, danach in Vernichtungs- und Arbeitslager transportiert. Überlebt haben diese Tortur letztlich nur zwei der 44 Juden: Sally und Isaak Hamburger.

Bürgermeister Daniell Bastian betonte, es sei wichtig, an dieser Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Schließlich sei die Vertreibung damals von einer schweigenden Mehrheit getragen worden. Das solle niemals vergessen werden. Es sei erschütternd, dass es so leicht gewesen sei, Menschen gegeneinander aufzubringen, betonte Pfarrerin Leonie Krauß-Buck.

„An einem Morgen, an dem sie nicht wussten, wo sie am Abend sein würden“ - so brachte es die Schüler-AG letztendlich auf den Punkt - begann für die letzten Seligenstädter Juden eine Tortur, die für die meisten im Tod endete. Auch für die zehnjährige Ruth...

Todbringende Deportation der Seligenstädter Juden: Alle Habseligkeiten mussten in einen Koffer gepackt werden.
Todbringende Deportation der Seligenstädter Juden: Alle Habseligkeiten mussten in einen Koffer gepackt werden. © Gruß, Lucy

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