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„Hass hat sich massiv verändert“

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Folgte der Einladung nach Seligenstadt: Daniel Neumann, Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen (Mitte), besuchte mit der ehemaligen Bürgermeisterin Dagmar B. Nonn-Adams und René Rock (Vorsitzender der FDP-Fraktion im Landtag) unter anderem den Synagogenplatz.
Folgte der Einladung nach Seligenstadt: Daniel Neumann, Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen (Mitte), besuchte mit der ehemaligen Bürgermeisterin Dagmar B. Nonn-Adams und René Rock (Vorsitzender der FDP-Fraktion im Landtag) unter anderem den Synagogenplatz. © Prochnow

Daniel Neumann, Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen, spricht in Seligenstadt über Antisemitismus früher und heute.

Seligenstadt – Vielleicht sollten Menschen nicht so viel übereinander, sondern mehr miteinander reden. Das dachten sich wohl auch Seligenstadts ehemalige Bürgermeisterin Dagmar B. Nonn-Adams und René Rock, Vorsitzender der FDP-Fraktion in Land- und Kreistag, und luden Daniel Neumann ein. Der Jurist ist Ehemann, Vater von vier Kindern und Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen. Sein Auftrag: „Jüdisches Leben und Antisemitismus heute“ vermitteln. Seine Aufmerksamkeit: auf jüdische Geschichte und Spuren in der Altstadt gerichtet.

Seine Gastgeber zeigten ihm zunächst den Synagogenplatz und goldene Stolpersteine vor Häusern, die einst von Nachbarn jüdischen Glaubens bewohnt waren. „Wir haben uns Zeit genommen und versucht, das Zusammenleben in Erinnerung zu rufen“, berichtete die ehemalige Rathauschefin später in ihrem Elternhaus an der Wendelinuskapelle.

Dort begrüßte sie einen kleinen illustren Kreis Interessierter über die Parteigrenzen hinweg zum Besuch Neumanns. Rock war froh, dass „Menschen da sind, denen das Thema am Herzen liegt“, und „traurig über die Erkenntnis, dass Antisemitismus wieder wächst, das macht betroffen“. Wer den Davidstern trägt, erfahre Anfeindungen bis zur Androhung körperlicher Gewalt.

Vortrag in Seligenstadt über Antisemitismus: Es gelte, Sensibilität zu wecken

Rock verurteilte, dass die „Situation an der Documenta in Kassel nicht aufgearbeitet“ werde. Es sei vorab bekannt gewesen, dass „Künstlergruppen Probleme mit dem Staat Israel“ haben. Es gelte, Sensibilität zu wecken, definierte der Liberale die Aufgabe von Politikern und Bürgerschaft. Diese Sichtweise lobte und bekräftigte Daniel Neumann.

Er bemühte die Historie: 600. 000 Juden lebten vor dem Weltkrieg auf deutschem Boden, 30 .000 sind geblieben, viele kamen als Befreite und Rückkehrer hinzu, viele sind dann ausgewandert. „Das war eine fragile Gemeinschaft“, erläuterte der Referent, „und Nachkriegsdeutschland war nicht an einer Aufarbeitung interessiert“.

Die Bevölkerung jüdischen Glaubens blieb unter sich, viele planten, die Bundesrepublik zu verlassen, saßen auf gepackten Koffern. Die Mehrheitsgesellschaft reagierte gleichgültig, während es Mitte der 80er Jahre eine „kleine Zuwanderung aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion“ gab. „Wir lassen uns nicht wegreden“, lautete die Parole, die Glaubensgeschwister zeigten Flagge und verhinderten ein judenfeindliches Fassbender-Stück in Frankfurt.

Hessen habe zehn vitale jüdische Gemeinden plus die Mainmetropole Frankfurt

Jetzt existiere in Hessen „ein stabiles Fundament mit zehn vitalen Gemeinden plus die Mainmetropole“. Die Gruppe dort sei zu groß für den Landesverband. Er unterhalte Synagogen und Gemeindezentren, Kindergärten, Altenheime, Ausbildungszentren und Sportvereine, „aber wir sind meilenweit entfernt von den 30er Jahren“, sagte Neumann.

„Wir bleiben, werden uns wirtschaftlich engagieren“, sagten sich viele, ihre Kinder seien hier zu Hause, „die jüdische Gemeinschaft hat neues Leben geatmet“. 250 000 Migrierte kamen in die Gemeinden, doch „kaum 100 000 sind wirklich angekommen“, formulierte der Direktor. „Viele standen dem Glauben ihrer Eltern durch Sozialismus und Atheismus fern.“

Menschen aus Russland haben oft Antisemitismus erfahren. „Ein Grund für ihre Auswanderung war, dass sie weder Religion noch Kultur ausleben konnten. Sie waren in vielerlei Hinsicht mit Feindseligkeit konfrontiert“, schilderte Neumann. „Es gibt immer irgendetwas, was man Juden nachsagt, eine Haltung, die man auch als Hass ausdrücken kann“.

Auch Daniel Neumann hat selbst Antisemitismus erfahren

Der Antisemitismus definierte Juden als etwas Größeres, gründete auf biologische Merkmale, erklärte der Gast. Nach dem Krieg wandelte sich das Phänomen zu einem Antizionismus, Israel galt als Stellvertreter für „die Juden“. Der Repräsentant fasste zusammen: „Menschen sind unfähig, sich selbst zu fragen, was schiefgelaufen ist, machen andere für alles verantwortlich“. Oder anders herum: „Wir können’s keinem recht machen.“

Der Jude wiederum „versucht, soweit es geht zu verdrängen“. Er sei mit Angst und Bildern von Gaskammern großgeworden, wurde auf dem Schulhof beschimpft, mit Holocaust-Leugnern und Nazis konfrontiert. Auch seiner Familie seien die Müllsäcke vorm Haus angezündet worden, sie erhielt provozierende Anrufe, weil der Vater bekannt war.

Inzwischen habe sich der Hass „massiv verändert“, es gebe kaum noch Anrufe, Feindseligkeiten konzentrieren sich nun auf jüdische Organisationen und mit einer Mail-Flut gegen den Zentralrat. Die Gegner unterzeichnen sogar mit vollem Namen und Anschrift. „Die Gefahr kommt von Rechts und vor allem von islamischer Seite“, obwohl jüdische Gemeinden eng mit muslimischen zusammenarbeiten.

Politik und Verbände stehen nach Ausschreitungen zwar hinter den Juden, „aber die breite Bevölkerung?“ Blöde Sprüche hören seine Kinder schon in der Grundschule, was die Neumanns bewegte, ihre Sprösslinge auf eine katholische Schule zu schicken. Aber er weiß: „Es lohnt sich, Strömungen und Vorurteilen mutig entgegentreten, damit sie morgen in einer besseren Welt aufwachen.“ (Von Michael Prochnow)

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