Winfried Sahm leitet seit 30 Jahren Kleinen Kunst- und Literaturkreis Seligenstadt

Winfried Sahm leitet seit 30 Jahren den Kleinen Kunst- und Literaturkreis in Seligenstadt. „Für mich ein tolles Publikum und eine sehr schöne Arbeit“, blickt er zurück.
Rodgau/Seligenstadt – Für den Inhalt der Bücherzelle am Rodgauer Rathaus kann sich Winfried Sahm nur in Maßen begeistern. „Einen Großteil der Bücher würde ich gerne dort drüben entsorgen“, sagt der Kulturdezernent und Grünen-Politiker und deutet auf den nahen Mülleimer. Beim Sortieren und Aufräumen fällt ihm dann doch ab und zu Lesenswertes in die Hände. „Kon-Tiki“ zum Beispiel, Thor Heyerdahls Dokumentation seiner Floß-Fahrt über den Pazifik. Auch ein Buch aus den Siebzigern über Nazi-Kunst weckte vor kurzem Sahms Interesse.
Literatur, Kunst und Regionalgeschichte, am liebsten miteinander verknüpft – Sahms Expertise macht ihn zum gefragten Referenten. Vor 30 Jahren bringt ihn der Zufall zum „Kleinen Kunst- und Literaturkreis“ nach Seligenstadt. „Eine Kitsch-Geschichte“, sagt der 72-Jährige. Er springt als Museumsführer ein, „Russische Avantgarde“ ist das Thema in der Frankfurter Schirn. Die Gruppe ist so angetan, dass sie ihm einen Brief schreibt: Ob er denn nicht nach Seligenstadt komme wolle? „Ich lasse mich gerne fragen“, sagt Sahm. „Seitdem sind wir zusammengeblieben.“
Das Jubiläum 30-jähriger Verbundenheit fällt coronabedingt in die längste Pause, die der Kunst- und Literaturkreis seit 1992 eingelegt hat. Rund 35 Treffen pro Jahr leitet Sahm in nicht-pandemischem Zeiten donnerstagmorgens im St.-Josefshaus. „Jede Veranstaltung ist ein Unikat“, verspricht der Rodgauer.
Für den Auftakt am 5. Mai hat sich der begeisterte Wörterkundler vom dreifachen „Zw“-Anlaut der Jahreszahl 2022 inspirieren lassen. Titel: „Zwanzig Zwockel, zweiundzwanzig Zweige“. Vielleicht schaffen es auch die „Zwiebelsuppe“ und das „Zwielicht“ in den Reigen der Wörter, die Sahm als Assoziationsreiz in die Runde werfen möchte. „Ich lasse mich gerne vom Publikum steuern und treiben, ich kann spontan arbeiten beim Vortragen“, sagt der Diplom-Psychologe. „Und wenn von den Leuten nichts kommt, kommt von mir was.“
Ein Kerngrüppchen Zuhörer, vornehmlich im Alter ab 60 Jahren aufwärts, kann er bei den Treffen immer um sich scharen. „Wenn zehn kommen, ist es wenig, wenn 25 kommen, viel.“ Mit einer gewissen intellektuellen Zumutung müsse man rechnen, sagt Sahm. Er spricht von „intelligenter Unterhaltung“.
Heilige, Wetter, Wallfahrtsbräuche, Schafe, griechische Mythologie, Brücken, Tagesgeschehen – die Themen gehen nie aus. Spätestens beim Radfahren kommen neue Ideen. Sich selbst zu langweilen sei das Schlimmste, was ihm passieren könne, sagt Sahm.
Am liebsten „belästigt“ er mit Lyrik. „Für mich die produktivste Form der Literatur, weil sie mit dem geringsten Zeitaufwand den höchsten Ertrag bringt. Es ist schwer verständlich, wieso viele so eine Distanz zur Lyrik haben.“ Jüdische Geschichte zählt zu den Schwerpunkten seiner Arbeit, daneben hat es ihm die Dialektliteratur angetan. Im Frankfurter Wörterbuch stößt er immer wieder auf Begriffe, „die ich 30, 40 Jahre nicht gehört habe“ und die er auch dem Literaturkreis nicht vorenthalten möchte. Die Großmutter sprach Dialekt mit zahlreichen französischen Wörtern von „Trottoir“ bis „Chaussee“ – immer mit Betonung auf der falschen Silbe. „Es ist Glück und Schmerz zugleich, dass ich einer Generation angehöre, die die Einebnung des Dialekts miterlebt hat.“
Sahm scheut sich nicht, durch Provokation Reaktionen seines Publikums hervorzurufen. Die Seligenstädter Gruppe, schätzt er, stamme im Großen und Ganzen aus einem anderen bildungshistorischen Milieu als er selbst, der in einer einfachen Familie aufgewachsen sei und sich als Alt-68er bezeichne. Ordinäres aus der Kneipenkultur trifft auf Bildungsbürgertum – das erzeuge Reibung.
„Für mich ein tolles Publikum und eine sehr schöne Arbeit – es wird viel verziehen, ich kann eine Menge ausprobieren. Ich hoffe, dass die Leute kommen und sagen: Egal, was der macht, irgendwie interessant wird’s schon werden.“ (Von Franziska Jäger)