Zeitlose christliche Botschaft: Thomas Gabriels Matthäus-Passion großer Publikumserfolg

Zwei Jahre mussten er selbst und die Zuhörer auf die Premiere warten: Am vergangenen Wochenende hat die „Matthäus-Passion“ von Thomas Gabriel nun Premiere in St. Marien in Seligenstadt gefeiert. Die Prominenz aus Politik und Klerus, aber auch das restliche Publikum waren begeistert von den neuen Tönen zum Tod am Kreuz.
Seligenstadt – Es ist vollbracht. Nach zweijähriger, von Corona erzwungener Pause erlebte „Christi Kreuz vor Augen“, Passion nach Worten des Evangelisten Matthäus von Thomas Gabriel und Eugen Eckert, in der Pfarrkirche St. Marien eine enervierende Uraufführung.
Minutenlanger Beifall des Publikums mit Prominenz aus Politik und Klerus galt auch der großartigen Solistenriege um Evangelistin Tabea Nolte, dem Essener Domchor, dem Orchester Main-Philharmonie, Mitgliedern der Essener Philharmoniker, einer Jazzcombo mit dem Komponisten Gabriel am Piano und dem Domkapellmeister Steffen Schreyer, der den großen Klangapparat schier mühelos in Szene setzte.
Zivilcourage unter schlimmen politischen Verhältnissen Thema von Gabriels Werk
Es ist ein großer Brückenschlag vom Barock eines Johann Sebastian Bach in die Moderne, den Thomas Gabriel, in Klassik wie im Sacro-Pop und im Jazz gleichermaßen versiert, in seiner Matthäus-Passion glaubwürdig vollzieht. Von Bach stammt hier die ehrwürdige Form – Rezitativ, Arie, Chor und Choral – und allenfalls der Zwölfachteltakt des Eingangschors, die der Wahl-Seligenstädter Komponist klanglich neu interpretiert. Wie auch Eugen Eckert, Stadionpfarrer, Referent für „Kirche und Sport“ der Evangelischen Kirche in Deutschland und ein gefragter Librettist von Oratorien, Kantaten und dem Neuen Geistlichen Lied, der den Bibeltext ins Hier und Heute überführt. Geschildert wird wie schon bei Matthäus der Leidensweg Christi vom Komplott der Hohepriester, dem Verrat des Judas, dem letzten Abendmahl mit den Jüngern, der Gefangennahme Jesu, Verleugnung des Petrus und der Verurteilung zum grausamen Tod am Kreuz.
Dabei sorgt der Dramaturg Eckert in den sprachlich aktualisierten Rezitativen und Chordialogen für Hochspannung, während in den vom Wort her fein geschliffenen Kommentaren der gläubigen Seele auch die Frage nach Zivilcourage selbst unter schlimmen politischen Verhältnissen (wie wir sie heute im Ukraine-Krieg erleben) gestellt wird.
Basieren bei Bach die Rezitative klanglich auf Continuo-Basis (Cello plus Orgel oder Cembalo), so sind sie bei Gabriel einer Jazzband anvertraut, die angelegentlich dem Violoncello Klangraum gibt, die Hinterlist der Hohepriester auch mal im sperrigen Fünfvierteltakt anprangert und hochkochende Emotionen mit fetzigen afrokubanischen Rhythmen unterlegt. Hier ist Altistin Tabea Nolte eine überaus spannende Erzählerin mit angenehmer, absolut Vibrato-freier Stimme.
Konzert in St. Marien Seligenstadt: Zeitlose Botschaft, zeitgenössische Musik mit Ohrwurmcharakter
Bigband-Sound und barocker Kontrapunkt sind in Gabriels musikalischem Weltbild keine Gegensätze, sondern ergänzen einander in kompaktem, rhythmisch fetzigem Orchesterklang. Hitverdächtig ist wie schon beim barocken Händel (Messias) das Halleluja, Ohrwurmcharakter hat zudem so mancher Jazz-Waltz etwa zum Psalm 117 „Lasst uns Gott loben“. Die Choräle scheinen an Bach anzuknüpfen, sind aber harmonisch völlig neu gefasst. Daneben schlagen klanglich unwirkliche Nachtszenen mit fahlem Glockenschlag in Bann, und der Romantiker Johannes Brahms kommt a cappella „In stiller Nacht“ zu gutem Chor-Ton.
Verfügt der Komponist über ein großes Arsenal an spätromantischen Klangfarben, so verebben sie, wenn sich Christi Leiden zuspitzt. Beim Paul-Gerhardt-Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ (auch bei Bachs Matthäus-Passion ein zentraler Punkt) ist modernistisches Grau in Grau auf harten rhythmischen Skalen Trumpf.
Ist Jesus im Barock stets von einer Art klanglichem Heiligenschein umgeben, so hat Gabriel den ausdrucksstarken griechischen Bariton Georgios Iatru mit den Sopranen Esther Bathelt, Andrea Schroeder und Bernadette Schreyer umgeben, deren Engelsstimmen das dramatische Geschehen mitsteuern.
Den übrigen Solisten wie Judas, Petrus oder die Sklavinnen, allesamt mit starken Stimmgaben aus dem Chor heraus singend, gebührt ein Sammellob. Wie dem stimmlich fein austarierten Essener Domchor und der Orchestervereinigung, Wachs in Steffen Schreyers Dirigierhänden, der die klangliche Balance überwiegend gut hält. Und auf derart hohe Textverständlichkeit Wert legt, dass man Eckerts Libretto alsbald schließen kann. Zeitlose christliche Botschaft in zeitgenössischem Klang: Gabriels Matthäus-Passion hat das Zeug zum Dauerbrenner. (Von Klaus Ackermann)