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„Unreflektierte Machtverschiebung nach Brüssel“

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Von: Prof. Achim Wambach

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Prof. Achim Wambach ist seit April 2016 Präsident des ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim.
Prof. Achim Wambach ist seit April 2016 Präsident des ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. © dpa/Litzka

Wenig bemerkt von der Öffentlichkeit enthält der Koalitionsvertrag eine Zäsur – die neue Bundesregierung möchte die Europäische Union zu einem föderalen Bundesstaat ausbauen. Sie sollte sich stattdessen auf das Einbringen des europäischen Mehrwerts konzentrieren, schreibt Prof. Achim Wambach.

Mannheim - Fast nebensächlich wird im Koalitionsvertrag vorgeschlagen, dass die EU einen „verfassungsgebenden Konvent“ einberuft, der zu „einem föderalen Bundesstaat führen“ soll. Zur Orientierung: USA, Schweiz oder Deutschland werden allgemein als föderale Bundesstaaten bezeichnet.

Im nächsten Halbsatz wird dieser Ruf nach einem Bundesstaat insofern abgeschwächt, dass dieser „dezentral auch nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit organisiert“ sein soll. Dennoch, eine Machtverschiebung von den Hauptstädten der EU nach Brüssel ist im Koalitionsvertrag angelegt. Budgetverlagerungen nach Brüssel gehören konsequenterweise dazu. 

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EU: Weitere Integrationsschritte dort, wo sie Mehrwert schaffen

Es ist richtig, dass die Europäische Union weiterer Integrationsschritte bedarf. Diese sollten aber – nach dem Grundsatz der Subsidiarität und aus guten ökonomischen Gründen – dort stattfinden, wo die Verlagerung der Entscheidungskompetenz nach Brüssel einen echten Mehrwert schafft – den  „European Added Value“, der in Brüssel schon zu einem feststehenden Begriff geworden ist.

Einen solchen Mehrwert gibt es in den Politikfeldern, bei denen das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, also dort, wo eine gesamteuropäische Verantwortung Skalenerträge und ein Ende des nationalen Trittbrettfahrens verspricht. Die Gewährleistung des europäischen Binnenmarkts sowie die gemeinsame europäische Außenwirtschaftspolitik sind Beispiele für Politikfelder, bei denen die Delegation der Verantwortung nach Brüssel bereits den Wohlstand in Europa gesteigert hat.

EU-Integration: Handlungsbedarf in vielen Bereichen

In vielen anderen Feldern besteht Handlungsbedarf. Dazu gehören die Entwicklungshilfe, die Migrations- und Flüchtlingspolitik, die Verteidigungspolitik, sowie die Klima- und Umweltpolitik. Gemeinsames Kriterium dieser Politikfelder sind die staatenübergreifenden Auswirkungen möglicher Maßnahmen. Damit ein gemeinsames Engagement in diesen Feldern möglich wird, müssten die Mitgliedstaaten ähnliche politische Linien in den genannten Bereichen verfolgen. Ansonsten ist eine einheitliche europäische Politik kaum erreichbar. Da kommt auf die neue Bundesregierung noch viel Überzeugungsarbeit zu.

Auch der Ausbau der europäischen Infrastruktur ist von gemeinsamem Interesse und nicht von Einzelstaaten leistbar. Es ist daher konsistent, dass sich der Koalitionsvertrag für transnationale Projekte hinsichtlich einer europäischen digitalen Infrastruktur, eines gemeinsamen Eisenbahnnetzes sowie einer europäischen Energieinfrastruktur für erneuerbaren Strom und Wasserstoff ausspricht.

EU: Pandemie eröffnet neues Politikfeld

Mit der Pandemie ist ein weiteres Politikfeld dazu gekommen: die Koordinierung der Gesundheits- und Seuchenpolitik. Der Plan der Ampelkoalition, sich für einen EU-Katastrophenschutz und eine gemeinsame Beschaffung in diesem Bereich einzusetzen, geht in die richtige Richtung.

Auch hat die Krise eindrücklich gezeigt, dass Bedarf an einem europäischen Instrument zur makroökonomischen Absicherung besteht. In einer Krise sollten die Staaten, die weniger betroffen sind, denen beispringen, die mehr betroffen sind. Der Wiederaufbaufonds, der mit 750 Milliarden Euro ausgestattet ist, um die Folgen der Pandemie in den Griff zu bekommen, hätte die Blaupause für ein solches Instrument sein können, greift aber zu kurz. Die Auszahlung erfolgt weniger nach Krisenbetroffenheit, sondern mehr nach dem wirtschaftlichen Ausgangsniveau vor der Krise – die Umverteilungskomponente dominiert damit die Absicherungskomponente.

Der nüchterne Verweis im Koalitionsvertrag, dass der Wiederaufbaufonds ein „zeitlich und in der Höhe begrenztes Instrument“ sei, spricht nicht dafür, dass dieses ausgebaut werden soll. Stattdessen plant die Koalition den Stabilitäts- und Wachstumspakt weiterzuentwickeln, um damit den Staaten bei ihren Schuldenaufnahmen mehr Freiheitsgrade zu geben.

EU: Die Suche nach dem europäischen Mehrwert ist keine Einbahnstraße

Die Suche nach dem europäischen Mehrwert sollte nicht als Einbahnstraße missverstanden werden. Dazu gehört auch, Politikfelder in der EU eben nicht aufzugreifen oder auch Maßnahmen zurückzufahren, wenn diese gemäß dem Subsidiaritätsprinzip besser bei den einzelnen Staaten angesiedelt wären. Die Direktzahlungen an die Landwirtschaft etwa erfolgen ohne erkennbaren europäischen Mehrwert, und lassen sich somit nicht als Bestandsposten des EU-Haushalts begründen.

Die Politikfelder, in denen europäischer Handlungsbedarf besteht, sind weitreichend. Es ist daher zu begrüßen, dass die neue Bundesregierung der europäischen Integration neuen Schwung verleihen will. Eine unreflektierte Machtverschiebung nach Brüssel wäre dabei der falsche Weg, eine konsequente Verfolgung des europäischen Mehrwerts hingegen schon.

Zum Autor: Professor Achim Wambach ist seit April 2016 Präsident des ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Seit 2014 ist Wambach Mitglied der Monopolkommission, zwischen 2016 bis September 2020 auch deren Vorsitzender. Der Ökonom gehört außerdem dem Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums an, dessen Vorsitz er von 2012 biss 2015 innehatte. 

*Merkur.de ist Teil von IPPEN.MEDIA.

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